Während die Branche gezielt auf Diversity setzt und etwa um LGBT-Bewerber buhlt, hört man von Anwälten mit Behinderung herzlich wenig. Passen sie einfach nicht in das leistungsbetonte Umfeld der Großkanzleien? Unsinn – im Gegenteil.
Hört man sich in Wirtschaftskanzleien um, hört man von Anwälten mit Behinderung wenig. Kopfschütteln allerorten. Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung sind im Kanzleiumfeld nur rudimentär vorhanden. Feste Leitsätze stehen nirgends niedergeschrieben, Diversity-Programme zielen vor allem auf Frauen, LGBT-Personen oder Menschen mit Migrationshintergrund ab."Wir gehen das Thema nicht systematisch an, da kein angemessenes Verhältnis zwischen Anzahl und Aufwand gegeben ist", heißt es vom Sprecher einer Großkanzlei. "Außerdem glauben wir nicht, dass ein spezifisches Programm für uns von Vorteil wäre."
Soll heißen: LGBT-Veranstaltungen und Frauenförderungsworkshops werden öffentlichkeitswirksam als Recruitment-Tools eingesetzt. Damit verpassen sich Kanzleien einen modernen Anstrich. Programme für Anwälte mit Behinderungen hingegen gibt es nicht. Und das, obwohl Diversity als bunte ‘Wir-sind-offen-für-Alle‘-Fahne auf den Dächern der Kanzleien weht.
Das zeigt zwei Dinge: Erstens, Diversity-Programme richten sich vor allem an diejenigen, die attraktiv für die Kanzlei sind und zahlenmäßig eine kritische Masse bilden. Und zweitens zeigt es, dass die Unsicherheit in den Köpfen der Menschen groß ist. Jeder kennt Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung, aber Akademiker mit (körperlicher) Behinderung passen nicht recht zu dem gesellschaftlichen Verständnis in Deutschland.
Was bedeutet "Behinderung" denn nun?
Zu diesem Schluss zumindest kommt eine Studie der Universität Köln im Auftrag der Aktion Mensch von 2013. Die Forscher fanden heraus, dass viele Arbeitgeber lieber eine Ausgleichabgabe zahlen, als die gesetzlich vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen zu beschäftigen, die Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen einstellen müssen. Weiter heißt es in der Studie, dass Arbeitgeber vor allem Bedenken wegen "geringerer Leistungsfähigkeit sowie Unsicherheiten im Umgang miteinander hätten. Erst dann folgen ein möglicher Mehraufwand oder der besondere Kündigungsschutz."
Die Unsicherheit könnte darin begründet liegen, dass sich der Begriff Behinderung nicht klar fassen lässt. Denn dahinter verbirgt sich ein vielfältiges Spektrum. Er schließt äußere Merkmale wie Seh- und Hörschädigung, Sprach- und Körperbehinderung ein sowie chronische Krankheiten, psychische Begebenheiten wie Verhaltensstörungen als auch Lern- und geistige Behinderungen.
Dabei gibt es Menschen mit entsprechenden Einschränkungen in Kanzleien durchaus – nur meist nicht in der Rechtsberatung. Beispielsweise beschäftigt Hogan Lovells im Madrider Büro zwei Mitarbeiterinnen mit geistiger Behinderung. Sie arbeiten im Office Management und kümmern sich um die Ausstattung der Besprechungsräume, Kopierarbeiten und Essensbestellungen.
Und auf Anwaltsebene? "Ich persönlich kenne keinen Fall in unserer Kanzlei" oder "Mir ist das Thema noch nicht begegnet" sind gängige Reaktionen in den Sozietäten. Laut Diane Manz (44), Senior Human Resources Manager bei Ashurst Deutschland, müssen diese Empfindungen nicht der Realität entsprechen. "Ein Mitarbeiter kann natürlich eine chronische Krankheit oder eine Behinderung haben, die nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. Davon würden wir nichts erfahren, weil er dies nicht angeben müsste." Offizielle Zahlen über Anwälte oder Jurastudenten mit Behinderung gibt es nicht. Die wenigsten melden ihre Behinderung an die offiziellen Stellen.
Jeder Mensch kennt jemanden mit einer Behinderung
Der Teilhabebericht der Bundesregierung von 2013 gibt nur vage Zahlen heraus: "Über 7 Millionen Menschen gelten in Deutschland als schwerbehindert, rund 17 Millionen Menschen im Alter von über 18 Jahren leben mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder chronischen Krankheiten, die sie im täglichen Leben einschränken." Die geschätzte Anzahl der Menschen stellt also beinahe ein Viertel der deutschen Bevölkerung dar. Deshalb machen die Autoren des Teilhabeberichts darauf aufmerksam, wie alltäglich der Umgang für den Einzelnen eigentlich sei. Denn: "Jeder von uns kennt folglich einen Menschen aus der unmittelbaren Umgebung, der von Beeinträchtigungen betroffen ist.
"Beeinträchtigung" meint die Einschränkung von Menschen durch die Gesellschaft. Denn "Behinderung" wird im politischen Sinne nicht mehr nur auf Menschen mit bestimmten Einschränkungen angewandt, sondern richtet sich vor allem an seine Umwelt. Laut dem Informationsdienst Soziale Indikatoren vom April 2015 (Nr.53) ist das "Verständnis von Behinderung nicht mehr defizitorientiert, sondern ressourcenorientiert. Die Bedeutung der Umwelt für das Gelingen des Ziels Inklusion ist essentiell." So verstanden ist nicht der Mensch selbst behindert, sondern er wird behindert durch eine Umwelt, deren infrastrukturelle Gegebenheiten oft nicht an seine speziellen Bedürfnisse angepasst sind. Aber gilt das auch im Umfeld der Großkanzleien?
"Große Kanzleien müssen sowieso für Barrierefreiheit sorgen. Denn auch unter den Mandanten kann es Menschen mit einer Behinderung geben", sagt dazu Ashurst-Mitarbeiterin Manz. Sie erzählt von einem Referendar, der im Münchener Büro der Kanzlei arbeitete. Er ist Rollstuhlfahrer und benötigte spezielle Sprachsoftware für den Computer. "Das war weder aufwendig noch eine Diskussion wert", erinnert sich Manz. "Die Kosten für technische Infrastruktur halten sich da in Grenzen."
Désirée Balthasar, Anwälte mit Behinderung: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16434 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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