Bedrohungen, Beleidigungen und Messerfunde. In Deutschland sind Gerichte öffentlich zugänglich – ist das auch ein Sicherheitsrisiko? Klar scheint vor allem, die Länder erfassen Zwischenfälle bei ihrer Justiz sehr unterschiedlich.
Als im Stralsunder Amtsgericht Mitte Juni einem Anwalt bei einem Haftprüfungstermin eine Schreckschusspistole aus der Jackentasche fiel und sich ein Schuss löste, handelte es sich offenbar nur um einen "unglücklichen Vorfall". Der Verteidiger sei dem Gericht bekannt und stelle keine Gefahr dar, ließ das Gericht als Entwarnung mitteilen.
Dass die Waffe aber überhaupt in den Gerichtssaal gelangen konnte, lag offenbar auch daran, dass am AG Stralsund Einlasskontrollen nur anlassbezogen durchgeführt werden. Es fehlt wie an vielen deutschen Gerichten an Wachtmeistern, um eine dauerhafte Kontrolle zu gewährleisten.
Nur drei Viertel der 16 deutschen Bundesländer führen eine entsprechende Statistik zu "sicherheitsrelevanten Vorfällen" an ihren Gerichten, das geht aus den Antworten der Länderjustizministerien auf einen Fragekatalog von LTO hervor.
Uneinheitliche Datenlage in den Ländern
Baden-Württemberg hielt für das Jahr 2018 insgesamt 287 "sicherheitsrelevante Vorkommnisse" fest, in den Vorjahren waren es für 2017 insgesamt 219, für 2016 insgesamt 221, und für 2015 insgesamt 186. In Niedersachsen wurden im vergangenen Jahr 70 Vorkommnisse berichtet, 2017 waren es 59, 2016 waren es 86. In Hamburg, wo für 2018 insgesamt 50 Vorfälle gemeldet wurden, waren es 2017 26, 2016 waren es 35 Übergriffe. Rheinland-Pfalz erfasst seit September 2018 sicherheitsrelevante Ereignisse und dokumentierte bis heute 30 Fälle. Mecklenburg-Vorpommern verzeichnete für 2018 nur sechs Zwischenfälle. Sachsen berichtet "vereinzelte" Fälle. In Hessen wurde dem Ministerium 2018 kein einziger "sicherheitsrelevanter Zwischenfall" gemeldet, für das Jahr 2019 aber bereits eine ganze Reihe, einmal wurde eine Richterin in ihrem Dienstzimmer angegriffen.
Und wie die Länder solche Ereignisse erfassen, fällt sehr unterschiedlich aus. Einige Justizministerien dokumentieren detailliert seit Jahren, andere erst seit Kurzem, einige konzentrieren sich auf Gefahren für ihre Gerichtsvollzieher, andere allein auf Gefahren durch Reichsbürger.
Einigermaßen einheitlich erfassen die Landesjustizministerien unter dem Begriff "sicherheitsrelevanter Vorfall" Vorkommnisse, die voraussichtlich ein überregionales Interesse der Öffentlichkeit erregen, ein Thema im Landtag oder in den Medien werden könnten. Deshalb haben die meisten Länder eine Meldepflicht eingeführt. Gemeldet werden müssen nicht nur tätliche Angriffe auf Justizmitarbeiter, Fluchtversuche oder ein Waffenfund im Gebäude, sondern auch entwendete Akten oder verdächtige Postsendungen an das Gericht.
Bedrohungen, Beleidigungen, Waffenfunde
Konkret fallen unter "sicherheitsrelevant" wie Baden-Württemberg für 2018 aufschlüsselt: 21 Handgreiflichkeiten, 58 Bedrohungen, 20 Beleidigungen, 70 eskalierende Situationen, 87 Waffenfunde bzw. andere gefährliche Gegenstände und 13 sonstige Vorfälle. Von den 50 im Jahr 2018 gemeldeten Übergriffen in Hamburg entfielen 19 auf Beleidigungen, 26 auf verbale Bedrohungen, drei auf Bedrohungen mittels Gegenständen und zwei auf Sachbeschädigung.
Zahlreiche Bundesländer verfügen über Sicherheitskonzepte, aber nur wenige über flächendeckende Einlasskontrollen an den Gerichten. Nachdem 2012 am Amtsgericht Dachau ein Angeklagter im Gerichtssaal einen Staatsanwalt erschoss, verschärfte Bayern seine Sicherheitsvorkehrungen. Nun gibt es an den Eingängen zu den Gerichtsgebäuden permanent Zugangskontrollen zu den Sitzungszeiten. Unterstützt werden die Justizwachmeister durch private Sicherheitskräfte.
Ein dramatischer Zwischenfall ereignete sich auch 2009 in Sachsen, als ein Angeklagter am LG Dresden eine Zeugin im Gerichtssaal erstach, sie hatte den Mann wegen rassistischer Beleidigung angezeigt. Seitdem hat auch Sachsen die Kontrollen intensiviert, aber an kleineren Amtsgerichten gibt es keine permanenten Kontrollen.
Ein Land ohne durchgängige Kontrollen ist auch Niedersachen. Der Richterbund des Landes hat es sich zur Aufgabe gemacht, bundesweit Übergriffe auf die Justiz zu dokumentieren, Tagungen zu veranstalten und auf das Thema aufmerksam zu machen. Der Berufsverband stellt fest, dass Übergriffe auf Richter und Staatsanwälte in Deutschland nicht an der Tagesordnung sind – aber sie kommen vor.
Risikofaktor Familienrecht
"Einen erheblichen Faktor stellen mitgeführte gefährliche Gegenstände dar", sagt der Vorsitzende Frank Bornemann, Richter am Oberlandesgericht Celle. Im ersten Quartal 2019 seien in Niedersachsen zwar nur an sechs Tagen Einlasskontrollen durchgeführt worden, zugleich aber über 80 Messer, 6 Rasierklingen, 25 Scheren, vier Schlagstöcke und weitere gefährliche Gegenstände gefunden worden. Berlin berichtet, dass bei Kontrollen an seinem zentralen Justizcampus im Stadtteil Moabit über 7.000 "sicherheitsrelevante Gegenstände" im Jahr gefunden wurden.
Bornemann betont, dass die Justiz nicht nur für die Sicherheit von Richtern und Staatsanwälten sorgen müsse, sondern auch eine Fürsorgepflicht für Zeugen und Zuschauer im Gerichtssaal habe. "Häufig ist es im Vorhinein schwierig abzusehen, wie gefährlich ein Verfahren werden kann." Bornemann weist daraufhin, dass gerade auf den ersten Blick "harmlosere" Verfahren wie etwa aus dem Familienrecht ein "verborgenes Gefahrenpotential" bedeuten können, wenn zum Beispiel zwischen den Eltern um das Umgangsrecht der Kinder gestritten wird.
In Niedersachsen finden Kontrollen am Eingang zum Sitzungssaal dann statt, wenn der jeweilige Richter sie per Formular beantragt, die Verantwortung liegt also in seiner Hand. Ein Zustand, den Bornemann kritisiert. Nach dem Mord im LG Dresden 2009 ermittelte die Staatsanwaltschaft zunächst dann auch gegen den zuständigen Richter wegen fahrlässiger Tötung – er habe nur mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen getroffen, so die Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren aber schließlich ein.
Zahlen zu Gerichtsvollziehern und Reichsbürgern
Keine noch so konsequenten Sicherheitskontrollen am Gericht helfen aber dabei, eine bestimmte Gruppe unter den Justizmitarbeitern zu schützen, die Gerichtsvollzieher. Sie treffen außerhalb der Gerichtsgebäude an Haustüren oder Gartenzäunen auf ihnen unbekannte Personen, um bei ihnen einen Gerichtsbeschluss zu vollstrecken, und in der Regel sind sie bei ihrem Auftrag alleine unterwegs. Zu Übergriffen auf Gerichtsvollzieher führt NRW eine gesonderte Statistik. Die Zwischenfälle stiegen von 2014 von noch 178 Vorfällen über sogar 362 Fälle im Jahr 2016 bis zu insgesamt 288 Fällen im Jahr 2018. In den meisten Fällen geht es um Beleidigungen, aber auch Bedrohungen mit Alltagsgegenständen und mit scharfen Hunden kommen vor.
Der zunehmende Kontakt der Justiz mit sogenannten Reichsbürger, die die Legitimität von Gerichten und Behörden der BRD anzweifeln, hat die Aufmerksamkeit der Länderjustizministerien geschärft. Einige Länder erfassen in den letzten Jahren deshalb auch speziell die Übergriffe aus dieser Gruppe, so etwa Thüringen oder NRW. Nach Zahlen aus NRW sind bei den insgesamt 273 Übergriffen im Jahr 2017 auf seine Gerichtsvollzieher ein Drittel der Fälle der Reichsbürgerbewegung zuzurechnen, von 2017 auf 2018 ging der Anteil aber zurück. Thüringen stellt für 2018 knapp über 600 Fällen fest, in denen Reichsbürger Dienstabläufe beeinträchtigt haben, Drohungen gab es rund 30. Die Zahlen sind im Vergleich zum Vorjahr 2017 rückläufig.
Die Länder betonen, dass sie ihren Gerichten mehr Sicherheitsausrüstung zur Verfügung stellen und die Gebäude sicherer machen wollen. Außerdem setzen sie auf Verstärkungen bei ihren Justizwachtmeistern und auf Fortbildungen zur Deeskalation.
LTO-Recherche zu Übergriffen auf Justiz: . In: Legal Tribune Online, 19.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35993 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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