Eine neue Studie dokumentiert, dass in Deutschland weniger als ein Prozent der ergangenen Gerichtsentscheidungen veröffentlicht werden. Dies hat katastrophale Folgen für Recht und Digitalisierung, meint Hanjo Hamann.
Deutschland versteht sich als demokratischer Rechtsstaat. Zu einem demokratischen Rechtsstaat gehört eine öffentliche Justiz, die verpflichtet ist, gerichtliche Entscheidungen zu publizieren. Das haben (mindestens) vier der sieben deutschen Bundesgerichte klargestellt: das Bundespatentgericht (Beschl. v. 23.04.1991, Az. 27 ZA (pat) 19/90 und 27 ZA (pat) 3/91), das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Urt. v. 26.02.1997, Az. 6 C 3.96), das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 14.09.2015, Az. 1 BvR 857/15) und der Bundesgerichtshof (BGH, Beschl. v. 05.04.2017, Az. IV AR(VZ) 2/16).
Was bedeutet das in der Praxis? Das wollte ich in einem Selbstversuch herausfinden: Würde es mir gelingen, zu erfahren, worum genau in diesen vier Fällen gestritten wurde? Mit anderen Worten: Könnte ich die instanzgerichtlichen Urteile auftreiben, von denen die lautstarke bundesgerichtliche Proklamation der deutschen Justiztransparenz ausging? Die kurze Antwort lautet: Nein. Vier Versuche, viermal Fehlanzeige.
Wenn also ein im öffentlichen Dienst angestellter promovierter Rechtswissenschaftler mit Zugang zu allen juristischen Datenbanken des 21. Jahrhunderts keinen Einblick in die Instanzrechtsprechung bekommt – wie soll es dann der Laienöffentlichkeit oder Journalisten gelingen?
50 Jahre Stagnation: Die Ein-Prozent-Hürde der Rechtsprechung
Anekdotische Selbstversuche sind das eine, belastbare Daten etwas anderes. Stimmt es wirklich, dass die Transparenz der Rechtsprechung deutlich geringer ausfällt als sogar "viele Juristen vermuten dürften"? Rechtswissenschaftler haben seit 1971 immer wieder aufgezeichnet, welcher Anteil der Rechtsprechung zu einem bestimmten Zeitpunkt publik gewesen ist. Die Entwicklung im vergangenen halben Jahrhundert ist also recht verlässlich nachvollziehbar. Um diesen Zeitraum in Perspektive zu setzen:
1971 war das Jahr, in dem der Mikroprozessor erfunden wurde – zwei Jahre vor dem Startschuss für das Rechtsinformationssystem des Bundes, aus dem später juris hervorging. Damals kostete der neueste Computer umgerechnet 24,8 Millionen Euro (inflationsbereinigt) – groß wie ein Kleiderschrank, mit einer Speicherkapazität von ganzen drei Megabyte. Knapp fünfzig Jahre später boomt die künstliche Intelligenz, eine fingernagelgroße Micro-SD-Karte fasst inzwischen ein Terabyte Daten, also 12,5 Millionen Mal so viel wie das modernste tragbare Speichermedium von 1971 – auf einer 250 Mal kleineren Fläche.
Wie hat die Justizdigitalisierung mit dieser Entwicklung Schritt gehalten? Diese Frage habe ich nun erstmals in einer Studie zur ordentlichen Gerichtsbarkeit untersucht, die am Freitag in der JuristenZeitung erschienen ist. Daraus stammt das folgende Diagramm: Es illustriert die Gesamtheit begründeter Gerichtsentscheidungen eines Jahres als schraffierte Fläche und zeigt als gefüllte Quadrate links unten den davon jeweils veröffentlichten Anteil: 1971 waren es knapp 0,6 Prozent, 2019 noch immer unter 0,9 Prozent. Ich konnte kein Jahr finden, in dem mehr als 1,01 Prozent der Gerichtsentscheidungen veröffentlicht worden wären.
Anonymisierung aus Gründen des Datenschutzes?
Diese 99-prozentige Intransparenz der deutschen Rechtsprechung ist vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen behaupten Gerichte häufig, dass sie Entscheidungen aus Datenschutzgründen nur anonymisiert herausgeben dürften – was prohibitiven Aufwand verursache.
Dabei wurde nie schlüssig begründet, "inwiefern in der Publikation von Parteinamen eine Verletzung des Datenschutzes liegen soll". Bei aller Rücksicht auf Fälle, in denen legitime Persönlichkeitsinteressen eine Anonymisierung gebieten, ist unklar, warum die Anonymisierung deshalb zum Normalfall werden und selbst große Industriekonzerne vor dem Licht der Öffentlichkeit schützen sollte.
Deshalb widersprach der Kölner Rechtswissenschaftler Heribert Hirte, der inzwischen dem Bundestag angehört, dem Anonymisierungsdogma schon vor über dreißig Jahren, und die Zweifel sind alles andere als verstummt (Hürlimann/Kettiger, Anonymisierung von Urteilen, 2020; Heese, FS Roth 2021, 283, 329 ff.; Hamann, JZ 2021, 656, 664).
Wer einen Streit vor deutsche Gerichte trägt, um ein Urteil "im Namen des Volkes" zu erlangen, kann im Grundsatz nicht darauf vertrauen, dass er seine Streitbeteiligung für sich behalten kann – so formulierte 1998 der Bundespatentrichter Friedrich Albrecht: "Die Beteiligung an einem Gerichtsverfahren stellt einen Sozialbezug her, der nicht zum unantastbaren innersten Lebensbereich gehört. […] Gegenüber dem Interesse der Öffentlichkeit auf Publikation von Gerichtsurteilen müssen die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten selbst dann zurückstehen, wenn sie […] identifizierbar bleiben".
Urteile nicht "veröffentlichungswürdig"?
Als zweites Hindernis gegenüber größerer Transparenz berufen sich Gerichte immer wieder auf die fehlende "Veröffentlichungswürdigkeit" der meisten Entscheidungen.
Warum aber sollte ein Rechtsstreit, der von einem Staatsbeamten "im Namen des Volkes" beendet wurde, der Öffentlichkeit desselben Volkes nicht würdig sein? Die Gerichte bezeichnen zwar salomonisch alle Entscheidungen als veröffentlichungswürdig, an denen die "Öffentlichkeit ein Interesse […] haben kann" (BVerwG, Urt. v. 26.02.1997, Az. 6 C 3.96), wobei "Anfragen aus der Öffentlichkeit regelmäßig ein öffentliches Interesse belegen" (BGH, Beschl. v. 05.04.2017, Az. IV AR(VZ) 2/16). Spätestens seit jenen Anfragen, die ich für meinen Selbstversuch (erfolglos) geschrieben habe, mag ich daran allerdings nicht mehr glauben.
Inzwischen gibt sogar die Richterschaft selbst in einem Positionspapier zu, dass "ein zu vermutendes Interesse der Öffentlichkeit" regelmäßig zurücktritt hinter die "eigene Arbeitsbelastung, die Befürchtung, sich der Kritik der Fachöffentlichkeit auszusetzen, ein fehlender ‚Mut‘ und vielfältige andere Motive". Ganz freimütig erzählt etwa der Präsident eines Oberlandesgerichts bei einem Video-Roundtable zur Digitalisierung des Zivilprozesses: "Ich bekomme fast wöchentlich Anfragen von [...] Universitäten, auch teilweise von Privaten, die eine große Anzahl von gerichtlichen Entscheidungen benötigen für bestimmte Forschungsvorhaben. Die bekommen sie aber nicht."
Informationsdefizit statt Rekontextualisierung
In vielbeachteten Plädoyers im Jahr 2019 mahnte der renommierte Verfassungsrechtler Oliver Lepsius, Jurist:innen dürften Urteilssprüche nicht gesetzesgleich verabsolutieren, sondern müssten sie durch "Rekontextualisierung" im Lichte ihrer konkreten Entstehungsbedingungen interpretieren.
Das bedeutet insbesondere: Entscheidungen früherer (d.h. unterer) Instanzen dürfen nicht nur als belangloses Vorgeplänkel einer obergerichtlichen Weissagung erscheinen, sondern rücken ins Zentrum des Forschungs- und Kontextualisierungsinteresses. Das gefällt nicht jedem: Der ebenso renommierte Emeritus Johann Braun erwiderte in derselben Zeitschrift, er sei "an dem Kleinkram, der die Datenbanken verstopft, sowieso nicht interessiert", weil "wegen der bloßen Zahl der zu analysierenden Entscheidungen jeder innovative Gedanke in einem Wust von Mediokritäten zu ersticken" drohe.
Man mag beeindruckt sein von der Geringschätzung, die deutschen Instanzgerichten hier entgegenschlägt – ebenso wie von der stolzgeschwellten Absage an digitale Recherchekompetenz, die in solcher Polemik mitschwingt. Mehr noch sollte man allerdings erschrecken über die dadurch eröffneten Potentiale zur strategischen Instrumentalisierung des Rechtsstaats: Im Dieselskandal etwa nutzten Automobilkonzerne öffentliche Gerichtsverfahren, um sich medienwirksam von Fehlverhaltensvorwürfen reinzuwaschen. Gelang das jedoch nicht – so belegen aktuelle Studien von Wiebke Voß und Michael Heese – traten die Unternehmen still und heimlich eine "prozesstaktische Flucht aus der Revision" an und erzeugten dadurch ganz gezielt ein "bundesweites Informationsdefizit" zum Stand der Dieselrechtsprechung.
Selbst Chinas Justiz ist transparenter
Die Folgen dieser Entwicklung werden auch im internationalen Vergleich deutlich. Das zeigt etwa eine empirische Studie aus China – einem Land, das sich nicht gerade mit der Transparenz seiner Justiz brüstet. Dennoch wurden in der chinesischen Provinz Sichuan, die ähnlich viele Einwohner hat wie Deutschland, in den Jahren 2015/16 mehr als 54,2 Prozent der erstinstanzlichen Strafurteile veröffentlicht.
Für denselben Zeitraum, dasselbe Sachgebiet und dieselbe Instanz lag die Quote in Deutschland bei 0,086 Prozent – über 633-mal niedriger. Kein Wunder also, dass China zum Technologieführer bei der Entwicklung computergestützter Methoden der Rechtstextanalyse avanciert.
Dr. Dr. Hanjo Hamann, JSM (Stanford), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bonn und Lehrbeauftragter an der FU Berlin. Die hier zusammengefasste Untersuchung "Der blinde Fleck der deutschen Rechtswissenschaft" entstand als Fellowprojekt am Deutschen Internet-Institut (Weizenbaum-Institut Berlin) und wurde in der JuristenZeitung (JZ) 2021, S. 656–665 veröffentlicht. Unter anderem für sein Engagement für juristische Transparenz wurde der Autor jüngst zum Nachwuchswissenschaftler des Jahres gewählt.
Transparenz der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 02.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45370 (abgerufen am: 03.11.2024 )
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