Am Landgericht durften Bürger über eine "gerechte" Strafe im "Haustyrannenfall" abstimmen. Wie haben sie entschieden und warum? Was bringen simulierte Gerichtsverfahren der Justiz? Der Pressesprecher Sebastian Anderski im Interview.
LTO: Anfang September war das Schwurgericht am Landgericht Hannover sehr ungewöhnlich besetzt. In einem simulierten Strafverfahren haben Bürgerinnen und Bürger über den "Haustyrannenfall" entschieden. Herr Anderski, was hat es damit auf sich?
Sebastian Anderski: Letzte Woche lief auch bei uns in Hannover die vom niedersächsischen Justizministerium erstmals initiierte "Woche der Gerechtigkeit". Es ging darum, das Thema Gerechtigkeit für die Menschen in Niedersachsen zugänglich zu machen und mit ihnen über Recht und Gerechtigkeit ins Gespräch zu kommen. Wir hatten nun die Idee, eine fiktive Strafverhandlung vorzuführen und mit den Bürgern über die Frage zu diskutieren: Was ist eine gerechte Strafe?
Was hat sie bei diesem Experiment am meisten überrascht?
Wie gut die Leute mitgemacht haben. Der Schwurgerichtssaal war mit über 60 Leuten richtig voll, darunter jung und alt, auch viele Schülerinnen und Schüler sowie ein Philosophiekurs. Sie alle haben sehr rege über den Fall diskutiert. Kaum, dass ich als Moderator die Diskussion eröffnet hatte, gingen schon die ersten Hände nach oben. Ich musste das Publikum gar nicht erst aus der Reserve locken, das war eine tolle Überraschung.
Warum haben Sie den "Haustyrannenfall" ausgewählt?
Wir haben uns bewusst einen Fall ausgesucht, der die Frage nach Recht und "Gerechtigkeit" sehr zuspitzt, Ein Fall, bei dem man gut diskutieren kann: Wie antwortet das Strafrecht darauf und wie würden juristische Laien darauf antworten?
Der "Haustyrannenfall" bringt die Urteilenden in eine echte Dilemma-Situation. Auf der einen Seite haben wir die Angeklagte, die ihren Ehemann mit 42 Messerstichen im Schlaf getötet hat und deshalb wegen Mordes angeklagt ist. Und auf der anderen Seite haben wir den Getöteten, der sie vorher viele Jahre lang tyrannisiert hat. Der Mann hat sie immer wieder geschlagen, auch als sie schwanger war. Es gab blaue Flecken, blaue Augen, Nasenbluten und Knochenbrüche. Die Frau hat irgendwann keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als ihren Mann zu töten.
So ein ähnlicher Fall hat 2003 als echter Fall sogar den Bundesgerichtshof beschäftigt…
Ja, denn mit dieser Geschichte vor Augen gibt es keine einfachen Antworten auf die Frage, welche Strafe gerecht ist. Im Zentrum der Verhandlung stand daher die Frage: Soll die Frau wegen heimtückischen Mordes bestraft oder soll sie freigesprochen werden?
Wie kann man sich diese Verhandlung vorstellen?
Die Verhandlung selbst haben wir als Kammerspiel inszeniert. Das kann man sich im Grunde so vorstellen wie eine echte Gerichtsverhandlung, nur verkürzt wie etwa bei Richterin Barbara Salesch oder Richter Alexander Hold. Die Schwurgerichtskammer war dabei nicht nur mit drei Berufsrichtern, sondern auch mit zwei spontan aus dem Publikum berufenen Schöffinnen besetzt. Das waren zwei junge Frauen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Während die eine schon eine Ausbildung in einer Anwaltskanzlei abgeschlossen hat und bald ein Jurastudium anfängt, hatte die andere Schöffin gar keine juristische Vorbildung.
Wie haben die Schöffinnen die Verhandlung erlebt?
Unsere Schöffinnen konnten sehr authentisch ganz vorn mit dabei sein und die Perspektive der Richter einnehmen. Als vollwerte Mitglieder der Kammer haben sie mit den Berufsrichtern auch zwei Zeugen vernommen: Den Bruder der Angeklagten und ihre Schwägerin, die zuerst erklärte, dass der Angeklagte immer ein herzensguter Mensch gewesen sei. Sie wurde dann aber nochmal intensiv befragt und hat nach erneuter Belehrung dann auch zur Wahrheit gefunden. Nach der Beweisaufnahme wurden die Plädoyers gehalten und die Kammer hat sich zur Urteilsberatung zurückgezogen. Dabei durften die Schöffen auch richtig über das Urteil mit beraten und mitentscheiden, wie bei einer echten Verhandlung auch. Ich habe währenddessen mit den Zuschauern gesprochen und sie gefragt: "Stellen Sie sich vor, sie wären Schöffen und müssten jetzt ins Beratungszimmer gehen. Auf welchem Standpunkt würden Sie stehen?"
Auf welchem Standpunkt standen denn die Schöffinnen?
Ich habe die beiden für die Verhandlungssimulation gefragt, wie sie abgestimmt haben – das wäre bei einem echten Fall wegen des Beratungsgeheimnisses natürlich nicht gegangen. Beide Schöffinnen hielten die Angeklagte für schuldig. Eine lebenslange Freiheitsstrafe fanden sie aber viel zu hoch. Die eine, juristisch vorgebildete, Schöffin, sprach sich für eine Milderung aus: "Man muss ja auch sehen, dass die Angeklagte jahrelang von ihren Mann tyrannisiert wurde. Deshalb war mein erster Gedanke, dass sie nur elf Jahre bekommen soll." Für die andere Schöffin hingegen spielte es eine große Rolle, dass die Angeklagte nicht aktiv nach Hilfe gesucht habe. Sie sagte, dass die Angeklagte zum Beispiel in einem Frauenhaus oder bei Arztbesuchen um Hilfe hätte bitten können.
Und, wie sah das Publikum den Fall?
Da waren auch fast alle der Meinung, dass die Frau schuldig ist. Nur eine Handvoll Personen war der Meinung, es müsse auf einen Freispruch hinauslaufen. Kontrovers diskutiert wurde vor allem das Strafmaß.
Welche Themen kamen da zur Sprache?
Es hat sich zum Beispiel eine Frau zu der Frage geäußert, ob man wirklich darauf vertrauen könne, dass es wirksamen Schutz durch die Behörden und Frauenhäuser gebe. Sie hat sich gefragt, ob es nicht vielleicht wirklich so war, dass die Angeklagte in einer sehr ausweglosen Situation war und einfach keine andere Chance hatte. Da gab es dann natürlich auch Gegenstimmen, die argumentierten, dass es ja ein völlig falsches Signal an die Gesellschaft sei, wenn die Angeklagte straffrei "davonkäme". Eine Frau hat sich gemeldet und gesagt: "Die Angeklagte muss verurteilt werden, weil viele Morde sonst akzeptabel werden würden". Beim Strafmaß würde sie aber unter zehn Jahren bleiben. Manche Zuschauer waren auch der Meinung: Das Stigma einer Verurteilung wegen Mordes verdient sie nicht. Sie fanden eine Verurteilung nur wegen Totschlags gerecht.
Welches Strafmaß erschien den Bürgerinnen und Bürgern angemessen?
Es haben fast alle Zuschauer gesagt, dass die lebenslange Freiheitsstrafe unverhältnismäßig sei. Ich habe dann mal abgefragt, welche Strafe das Publikum richtig findet und die meisten fanden fünf bis zehn Jahre angemessen. Es gab aber auch Menschen, die eine Geldstrafe richtig fanden.
Diese Diskrepanz zeigt, welche große rechtliche Frage im Haustyrannenfall steckt.
Genau. Wenn man die Frau wegen heimtückischen Mordes verurteilt, kommt nach dem Gesetzeswortlaut nur eine lebenslange Freiheitsstrafe in Betracht. Da gibt es eigentlich keine Milderungsmöglichkeit. Genau diesen Konflikt hat auch der Vorsitzende Stefan Lücke angesprochen, als er nach der Abstimmung das Urteil der Kammer verkündet hat. Aus dem Schuldgrundsatz ergebe sich, dass die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten darf. Daraus hat der BGH seine "Rechtsfolgenlösung" entwickelt. Danach darf man in solchen Extremfällen die Strafe analog nach § 49 StGB mildern. Das hat die Kammer in unserer Simulation auch gemacht. Die Frau wurde wegen Mordes zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Konnte das Publikum das Urteil nachvollziehen?
Nach der Urteilsbegründung fanden das Urteil auch fast alle Zuschauer gerecht.
Fast alle?
Ja, es gab auch kritische Stimmen. Zum Beispiel hat sich ein Mann gemeldet und gesagt, ihm sei die Strafe viel zu hoch. Er hätte fünf Jahre Freiheitsstrafe richtig gefunden. Eine Frau mit juristischer Vorbildung kritisierte die Rechtsfolgenlösung des BGH. Die verstoße doch gegen das Analogieverbot. Der Vorsitzende aber entgegnete ihr: "Das strafrechtliche Analogieverbot verbietet nur Analogien zu Ungunsten des Angeklagten und steht der Rechtsfolgenlösung daher nicht im Weg". Besonders in Erinnerung geblieben sind mir auch die Worte einer Frau, die sich zuvor für eine Milderung ausgesprochen hat. Sie meinte nach der Urteilsverkündung, dass die Entscheidung für sie zwar logisch sei. Aber sie fragte sich "Was bedeutet so ein Urteil für die Gesellschaft und für die Kinder?". Es sei ein fürchterliches Dilemma, sagte sie. Und: "Ich bin froh, dass ich so etwas nicht entscheiden muss".
Was erhoffen Sie sich von einer solchen Verfahrens-Simulation?
Unser Anliegen ist es natürlich, Interesse für die Justiz zu wecken und die Justizabläufe transparent zu machen. Das bringt auch den Bürgern etwas, denn immerhin wird jedes Urteil im Namen des Volkes gesprochen und da möchten sie natürlich auch verstehen, wie so eine Entscheidung zustande kommt.
Die meisten Hauptverhandlungen sind zwar öffentlich, aber nur vom Zuschauen versteht ein juristischer Laie natürlich noch nicht, wie genau das Gericht nun sein Urteil fällt.
Genau, in die Köpfe der Richter und Schöffen kann man normalerweise gar nicht reingucken, für sie gilt schließlich auch das Beratungsgeheimnis. Mit unserer Simulation konnten wir einen Schritt auf die Bürger zugehen und ihnen die Abläufe der Entscheidungsfindung wirklich transparent machen. Wir haben ihnen einen Blick hinter die Kulissen und sozusagen in die Köpfe unserer Richterinnen und Richter bei der Arbeit ermöglicht. Und in unserer Simulation haben sie auch ganz deutlich gesehen, wie schwierig so eine Entscheidung über eine "gerechte" Strafe sein kann. Ich glaube, die Menschen haben einen guten Einblick darin bekommen, welche Kriterien die Justiz dabei anlegt. Das schafft natürlich auch Vertrauen in rechtsstaatliche Entscheidungsprozesse.
Wird es weitere Verhandlungssimulationen am Landgericht Hannover geben?
Mein Wunsch ist auf jeden Fall, dass wir weitere Verhandlungssimulationen anbieten können. Natürlich können wir das jetzt nicht jede Woche machen, weil die Vorbereitung schon Kapazitäten bindet. Aber die überwältigende Resonanz auf unsere Veranstaltung hat uns ganz deutlich gezeigt, dass in der Bevölkerung ein großes Interesse an unserer Arbeit in der Justiz besteht. Wir merken: Die Menschen wollen mit uns über "Gerechtigkeit" reden. Das freut uns natürlich und wir wollen unser Bestes geben, ihnen immer wieder den Dialog anzubieten.
Herr Anderski, vielen Dank für das Gespräch.
Sebastian Anderski ist Richter und Pressesprecher am Landgericht Hannover. Er ist außerdem Co-Host des neuen Podcasts des Landgerichts Hannover "Recht in Ordnung". Darin spricht er mit dem Präsidenten des Landgerichts Dr. Ralph Guise-Rübe über das Recht und die Justiz.
Simulierter Mord-Prozess am LG Hannover: . In: Legal Tribune Online, 09.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55364 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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