Trotz anhaltender Kritik und einem neuen Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen arbeiten die Richter dort jeden Tag ihre Fälle ab. Aber wie unabhängig können sie entscheiden, wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Einen Einblick gibt Oscar Szerkus.
Das polnische Justizdrama findet kein Ende: Am 3. April hat die Europäische Kommission nun das zweite Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet. Grund sind neue Disziplinarregelungen für Richter. Nach den umstrittenen Justizreformen, die zum ersten Vertragsverletzungsverfahren geführt hatten, sind 2018 laut der Statistik des Justizministeriums knapp 15 Millionen Verfahren durch die ordentliche Gerichtsbarkeit gegangen. In der riesigen Masse der Alltagsverfahren, deren Erledigung auf keine Bedenken stößt, fallen einige Praktiken allerdings besonders auf.
Die polnischen Richter bekommen abseits von unwägbaren Belohnungen wie Prestigezuwachs ihren Karrieresprung meist mit der nächsten Entgeltauszahlung zu spüren. In einer politisch gesteuerten Gerichtsbarkeit können Beförderungen ein eindrucksvolles Mittel darstellen, um "richtige" Entscheidungen zu belohnen.
Gleichere unter Gleichen
Die Besoldung der polnischen Richter ist gekoppelt an das nationale Brutto-Durchschnittsgehalt im zweiten Quartal des Vorjahres. Den Wert ermittelt das Hauptstatistikamt (GUS). Welcher Betrag am Ende des Monats überwiesen wird, hängt von der Instanz ab. Und dort wiederum von seiner Position und zusätzlich einem dieser Position qua Gesetz zugewiesenem Faktor ab. So verdient ein Anfänger beim sąd rejonowy, dem Äquivalent eines Amtsgerichts, das 2,05-fache der Grundbesoldung, also etwa 2.300 EUR brutto.
Sein Kollege bei einem größeren Appellationsgericht, das einem OLG gleicht, das 2,92-fache, also etwa 3.300 EUR brutto. Im Obersten Gericht (SN) werden die Geldbeutel dicker: Mit mindestens 4.700 EUR brutto können Richter am SN rechnen. Hinzu kommt ein sog. Funktionszuschlag für Selbstverwaltungsaufgaben, der in der Regel ein Plus von 200 bis zu 1.000 EUR bedeutet.
Diese Regelungen beließ die PiS-Regierung bis dato unberührt. Interessant wird es jetzt: Im Zuge der Justizreformen der Jahre 2017 und 2018 erhielt das SN eine neue Kammer – und zwar für Disziplinarsachen. Das beamtenrechtlich anmutende Gremium ist die letzte Instanz, um eigensinnigen Richtern in Polen Einhalt zu gebieten. Im Gesetz über das SN heißt es zum Aufgabenfeld der Kammer: Disziplinarsachen gegen Richter am SN, gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit, gegen Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare.
Disziplinarsachen gegen Richter sind nichts Neues. Der Richterdienst steht im Spannungsverhältnis zwischen der Unabhängigkeit in der Sache, der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Zugehörigkeit zum konkreten Gericht als Behörde. Im letzten Fall kann es durchaus zu Disziplinarfragen kommen. Doch im Terminkalender der neuen Kammer stehen vor allem Verfahren gegen Kollegen, die in medienwirksamen Verfahren entschieden und sich darin gegen die PiS-Politik gestellt haben.
Rechtsanwendung als Disziplinarsache
Ein prominent gewordenes Verfahren vom Sommer 2016 betraf eine Haftprüfung und fand erst Mitte März 2019 seinen Abschluss. Aufgrund eines schriftlichen Geständnisses war gegen einen 19-Jährigen Untersuchungshaft angeordnet worden. Die zuständige Richterin monierte die Vorgehensweise der Ermittlungsbehörden und hob die Untersuchungshaft vorerst auf: Der Beschuldigte war Analphabet und besaß nicht die Reife, um der Vernehmungssituation geistig gerecht zu werden, so dass bereits zur Vernehmung Rechtsbeistand hätte beigeordnet werden müssen, so ihre Argumentation. Nach Presseberichten über die "Freilassung" reagierte der Referent für Disziplinarangelegenheiten am Appellationsgericht im niederschlesischen Wrocław (Breslau). Als dieser keine Verfehlung feststellen konnte, ging das Verfahren auf Betreiben des Justizministeriums an die Disziplinarkammer des SN.
In der Sache ging es um die Anwendung von Recht: War die Beiordnung eines Pflichtverteidigers bereits im Ermittlungsverfahren notwendig? Auf diese Weise befasste sich die Disziplinarkammer Mitte März 2019 mit einer originär richterlichen Kompetenz, die nur instanzgerichtlicher Kontrolle unterliegt – nämlich mit der Entscheidungskompetenz in der Sache, deren Ausübung von einem (bisher) respektierten absoluten Unabhängigkeitspostulat gedeckt ist. Das Verfahren endete für die Richterin mit einer Verwarnung wegen "Missachtung des Rechts".
Grundsätzlich ist auch die polnische Richterschaft von einem Sinn für Kollegialität geprägt. Nur wenige Richter dürften bereit sein, ihre Kollegen einem derartigen Druck auszusetzen. Auf diejenigen, die sich überwinden, wartet ein Zuschlag von 40 Prozent der Gesamtbesoldung brutto, der nur für Mitglieder der neuen Kammer vorgesehen ist. Wer überhaupt Mitglied in diesem wohlbetuchten Verein wird, entscheidet der nach "verbesserten" Bestimmungen zusammengesetzte Nationale Richterrat (KRS).
Aus den eigenen Reihen
Dem KRS obliegt seit 1989 u.a. die Überwachung der Richterausbildung und -ernennung sowie die Evaluation von Kandidaten für Richterposten, die direkt vom Präsidenten ernannt werden. Die Fachmeinung des KRS wird grundsätzlich akzeptiert. Man kann davon sprechen, dass de facto der KRS alle wichtigen Richterposten in Polen besetzt. Im Zuge der Justizreformen 2017-2018 wurde der KRS stärker in die Abhängigkeit zur Politik gebracht und damit in den Einfluss der regierenden PiS-Partei.
Auch die Besetzung der neuen Disziplinarkammer am SN fiel dem Richterrat zu. Wer die 11 Mitglieder der Kammer sind und welche Qualifikationen sie mitbringen, ist im Vergleich zu den Mitgliedern der anderen Kammern nicht so einfach herauszufinden: Auf der Webseite des SN fehlten noch bis Anfang April 2019 Angaben zur Zusammensetzung sowie den aktuellen Verfahren vor der Disziplinarkammer, die ausnahmsweise nicht publiziert wurden. Erst Ende letzter Woche, im Zuge der öffentlichen Debatte um die Richtereigenschaft und Rechtsprechungsbefugnis von Richtern, die vom neuen KRS gewählt wurden, änderte sich diese zurückhaltende Informationspolitik. Medienberichten zufolge handelt es sich bei den Disziplinarrichtern ganz überwiegend um Praktiker – vor allem Staatsanwälte und Strafrechtler.
Leaks aus dem Auswahlverfahren beim KRS verdeutlichten, dass es in den Vorstellungsgesprächen im Prinzip nur um rechtspolitische Themen ging: die Rolle der Ersten Vorsitzenden des SN Gersdorf, die kontroverse Ernennung der Richter zum TK, PiS-Justizreformen. Die ernannten SN-Richter sollen die "richtigen" Antworten auf diese Fragen gekannt haben – so wollen es zahlreiche Stimmen aus Richterkreisen wissen und Journalisten erfahren haben.
Mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der reformierten KRS befasste sich – auf Antrag der KRS – das Verfassungstribunal (TK) und bestätigte diese am 25. März 2019 – durch Richter, deren Ernennung selbst seit der TK-Reform nach wie vor umstritten ist. In gleicher Sache leitete der SN noch 2018 ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH ein, der hierzu Ende Mai Stellung nehmen soll.
Wie geht es weiter?
Diese praktischen Entwicklungen sind folgerichtige Konsequenz der PiS-Politik und symptomatisch für ein "postfaktisches" Zeitalter. Während es zu Beginn der Regierungszeit der PiS-Partei über die Richterschaft noch hieß, die "fetten Jahre" seien vorbei und die "Richterkaste" werde nun zugunsten offener Strukturen zerschlagen, zeugen die neusten Gesetzesänderungen vom Gegenteil. PiS-Nahe Richter am SN verdienen 40 Prozent mehr als ihre Kollegen. Die Möglichkeit, jederzeit und mit bescheidenem Begründungsaufwand Disziplinarverfahren einzuleiten, führt nach einer in Richterkreisen verbreiteten Ansicht zum "Einfriereffekt": Manch einer werde es sich zweimal überlegen, ob er eine politisch unhaltbare Entscheidung trifft.
Spätestens seit der Fusion der Positionen des Justizministers und des Generalstaatsanwalts warnen juristische Organisationen vor der Politisierung der Justiz. PiS und Justizminister Zbigniew Ziobro zeigen sich seit unbeeindruckt: Auch Kanada, ein allseits geachteter Rechtsstaat, kenne die Position des Attorney General, die der Justizminister in Personalunion innehat, so Ziobro. Gleiches gelte für eine Vielzahl anderer Demokratien, mit denen die PiS-Regierung Vergleiche anstellt, um Kritikern Einhalt zu gebieten. Nicht anders seien der politische Einfluss in der KRS oder im SN zu verstehen.
Dabei wird ein entscheidender Punkt vergessen: Nicht die isolierten Momentaufnahmen des status quo und des status ad quem sind Gegenstand öffentlicher Meinungsbildung und Bewertung. Es ist der Übergang von einem Zustand in einen bedenklichen anderen, der spürbar und daher Kritik ausgesetzt ist. Schließlich ist es eine Frage der Rechtskultur, inwiefern Reformen tatsächlich in eine bedenkliche Richtung ausschlagen. Dem Recht haftet stets die Gefahr an, als bloßes Instrument zur Wirklichkeitskorrektur nach der Willkür der Entscheidungsträger missbraucht zu werden. Umso mehr sind diejenigen, die mit der Rechtsanwendung betraut sind, dazu berufen, abstrakten Normen durch anständiges Handeln das Notwendige zur Verwirklichung von Rechtsstaatlichkeit zu verleihen.
Nach den Justizreformen in Polen: . In: Legal Tribune Online, 09.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34815 (abgerufen am: 05.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag