Erst kippte der 13. Senat am OVG Lüneburg 2G im Einzelhandel, kurz danach verlor er die Zuständigkeit für Corona. Eine Steilvorlage für Verschwörungsgläubige. Für mehr Transparenz bei der Geschäftsverteilung votiert Niklas Barnsteiner.
"Ausschaltung kritischer Richter", "Gleichschaltung" der Judikative – so lauteten Kommentare in sozialen Netzwerken als Ende Dezember das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg die Einrichtung eines neuen Senats bekanntgab. Warum die Aufregung? Der neu geschaffene 14. Senat erhielt zum Jahreswechsel u.a. die Zuständigkeit für das Gebiet des Gesundheitsrechts und damit die Zuständigkeit für alle gegen die Corona-Verordnung des Landes gerichteten Verfahren. Insoweit löste der 14. Senat den 13. Senat ab.
Nur wenige Tage vor Bekanntgabe des Zuständigkeitswechsels hatte der 13. Senat noch den Beschluss gefasst, die 2G-Regelung im Einzelhandel in der damaligen niedersächsischen Corona-Verordnung vorläufig außer Vollzug zu setzen. Diese Entscheidung wurde kontrovers diskutiert. Kritik an der Rechtsprechung des Senats kam auch von staatlicher Seite:
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sagte zwar, dass er "nicht die Absicht [habe], Urteilsschelte zu betreiben"; man müsse allerdings konstatieren, dass entsprechende 2G-Regelungen in den Corona-Verordnungen anderer Bundesländer gerichtlich nicht beanstandet wurden und Niedersachsen folglich das einzige Bundesland sei, in dem keine 2G-Regelung im Einzelhandel gilt. Zudem kündigte er an, dass das niedersächsische Sozialministerium eine Anhörung vor dem Gericht in Lüneburg beantragen werde. Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass er den Beschluss für falsch hielt. Noch deutlicher wurde Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery: Er stoße sich daran an, dass "kleine Richterlein sich hinstellen und wie gerade in Niedersachsen 2G im Einzelhandel kippen, weil sie es nicht für verhältnismäßig halten."
Politische Einflussnahme auf die gerichtliche Geschäftsverteilung?
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die kurz darauf folgende Übertragung der Zuständigkeit für das Gebiet des Gesundheitsrechts vom 13. auf den neu eingerichteten 14. Senat von einigen Beobachtern mit Argwohn kommentiert wurde. Die Tatsache, dass der Beschluss des 13. Senats zur 2G-Regelung im Einzelhandel von Bundesjustizminister Marco Buschmann ausdrücklich in Schutz genommen wurde, kam offensichtlich zu spät.
Der damit in den Raum gestellte Vorwurf politischer Einflussnahme auf die Geschäftsverteilung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts lässt sich jedenfalls noch nicht durch den Hinweis auf das gerichtliche Selbstverwaltungsrecht entkräften (so aber offensichtlich der Versuch des Vorsitzenden des Verbandes Niedersächsischer Verwaltungsrichter). Das gerichtliche Selbstverwaltungsrecht verbietet zwar jegliche Weisung von Seiten der Exekutive im Hinblick auf die gerichtsinterne Zuständigkeitsordnung. Allerdings beinhaltet der Vorwurf der politischen Einflussnahme gerade den Vorwurf des Verstoßes gegen das gerichtliche Selbstverwaltungsrecht, so dass ihm nicht durch die Angabe eines rechtlichen Soll-Zustands begegnet werden kann.
Aussagekräftiger ist da schon die Anmerkung des Präsidenten des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, wonach die Belastung des 13. Senats seit Beginn der Pandemie enorm zugenommen habe und daher schon seit längerem eine gerechtere Aufgabenzuweisung beim Gericht geplant gewesen sei. Unleugbar brachte die Pandemie (bzw. die Reaktion der Landesregierung auf sie) dem 13. Senat in den letzten zwei Jahren eine Flut an meist aufwändigen und unter starkem Zeitdruck zu bewältigenden Verfahren ein.
Auch die Behauptung des Sprechers des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, dass die Änderung der gerichtlichen Geschäftsverteilung auf den eigenen Wunsch des 13. Senats zurückgeführt werden könne, stellt danach einen zumindest plausiblen Erklärungsansatz dar.
13. Senat hielt auch viele Corona-Maßnahmen aufrecht
Auch dass der der Vorsitzende Richter des 13. Senat dem 14. Senat im Januar 2022 als Berichterstatter zugewiesen war, um eine personelle Unterbesetzung auszugleichen, so die Pressestelle des Gerichts gegenüber LTO, spricht gegen die These, dass hier politisch unliebsame Richter "kaltgestellt" wurden. Der Zeitpunkt der Einrichtung des 14. Senats nur wenige Tage nach dem umstrittenen Beschluss des 13. Senats zur 2G-Regelung im Einzelhandel erscheint angesichts dieser Umstände als unglücklicher Zufall. Er verdeckt die Tatsache, dass der 13. Senat neben Beschlüssen, mit denen er Corona-Schutzmaßnahmen aufhob, auch zahlreiche Entscheidungen traf, in denen er Freiheitseinschränkungen durch die niedersächsischen Corona-Verordnung aufrechterhielt. Sogar noch am Tag der Einrichtung des 14. Senats lehnte der 13. Senat einen Normenkontrolleilantrag gegen die sogenannte Weihnachts- und Neujahrsruhe ab, nach der Verbote unabhängig von Inzidenzen Geltung beanspruchten. Damit zeigte sich er sich etwa weniger streng als der Baden-Württembergische Verwaltungsgerichtshof, der eine vergleichbare Regelung einkassierte.
Dass auf der anderen Seite auch der neue 14. Senat mit unabhängigen Richterinnen und Richtern besetzt ist, die Corona-Maßnahmen nicht einfach durchwinken, wurde zuletzt Ende Januar deutlich. Der 14. Senat stufte die Untersagung der Nutzung von Sportanlagen unter freiem Himmel durch Ungeimpfte oder Nichtgenesene als unangemessen und verfassungswidrig ein.
Intransparente Geschäftsverteilung spielt Verschwörungstheoretikern in die Hände
Wenngleich demnach vieles dafür spricht, dass der Vorwurf politischer Einflussnahme unbegründet ist (jedenfalls wenn man nicht schon die öffentlichen Kritik aus Regierungskreisen an der Rechtsprechung des 13. Senats als politische Einflussnahme ansieht), muss zugegeben werden, dass als Außenstehender kein wasserfester Beweis erbracht werden kann.
Damit wirft der Fall das Licht auf ein generelles Problem der gerichtlichen Geschäftsverteilung: Sie ist intransparent und damit ein gefundenes Fressen für Anhänger von Verschwörungstheorien. So wurde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon häufiger der Vorwurf politischer Einflussnahme auf die gerichtliche Geschäftsverteilung erhoben. Dahingehenden Verdacht erregten beispielsweise schon die Stammheimer Terroristenprozesse oder das Honecker-Verfahren.
Das Problem resultiert aus dem Zusammenspiel zweier Aspekte: Zum einen gilt bei der gerichtlichen Geschäftsverteilung der Grundsatz der Gestaltungsfreiheit, d.h. die Art und Weise der gerichtlichen Geschäftsverteilung sind in weiten Teilen nicht gesetzlich vorherbestimmt, sondern fallen ins pflichtgemäße Ermessen des jeweiligen Gerichtspräsidiums, das aus dem Gerichtspräsidenten bzw. aufsichtsführenden Richter sowie aus mehreren gerichtsintern gewählten Richtern besteht und das in richterlicher Unabhängigkeit handelt. Auch wenn man die vor allem aus der Verfassung folgenden normativen Begrenzungen dieser Gestaltungsfreiheit berücksichtigt (zu nennen ist hier insbesondere das Prinzip des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), verbleiben erhebliche Spielräume. Zum anderen beraten die Gerichtspräsidien in aller Regel in nicht-öffentlicher Sitzung. Sie sind auch nicht dazu verpflichtet inhaltsvolle Sitzungsprotokolle offenzulegen oder ihre Geschäftsverteilungspläne mit einer Begründung zu versehen.
Begründungspflicht würde Transparenzproblem lösen
Die Motive der Gerichtspräsidien, einem bestimmten gerichtlichen Spruchkörper ausgerechnet ein bestimmtes Rechtsgebiet zuzuweisen bzw. zu entziehen, sind daher für Nicht-Gerichtsangehörige (teilweise sogar auch für die betroffenen Richter, die nicht Teil des Gerichtspräsidiums sind) oft nur schwer zu durchschauen.
Hier sollte der Gesetzgeber über eine Nachbesserung nachdenken. Namentlich der Implementierung einer Begründungspflicht für die gerichtlichen Geschäftsverteilungspläne stehen nach richtiger Ansicht keine unüberwindbaren sachlichen oder rechtlichen Hürden entgegen. Bereits eine knappe, aber nachvollziehbare Begründung würde dazu ausreichen, dem Aufkommen von Misstrauen effektiv entgegenzuwirken.
Sie würde kaum einen nennenswerten Mehraufwand für die Gerichtspräsidien bedeuten. Im Gegenteil: Eine Situation wie im Fall des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, in der sich das Gericht dem Verdacht aussetzte für politische Einflussnahme empfänglich zu sein und sich dazu genötigt sah, die Übertragung der Zuständigkeit für das Gebiet des Gesundheitsrechts auf den neu eingerichteten 14. Senat im Nachhinein gegenüber der Presse und Öffentlichkeit zu rechtfertigen, könnte von Anfang an vermieden werden.
Der Autor Niklas Barnsteiner promoviert derzeit zum Thema der gerichtlichen Geschäftsverteilung und arbeitet im Bereich des Öffentlichen Rechts bei Oppenländer Rechtsanwälte in Stuttgart.
Intransparente Geschäftsverteilung an Gerichten: . In: Legal Tribune Online, 08.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47460 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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