Sachverhaltsprüfung, Entscheidungsbausteine, ChatGPT für die Justiz? Trotz schleppender Digitalisierung bewegt sich was in Sachen Künstlicher Intelligenz an einigen deutschen Zivilgerichten. LTO hat sich bundesweit erste Anwendungen zeigen lassen.
Lange dunkle Gänge mit verstaubten Aktenbergen, ein Windstoß wirbelt lose Blätter auf, Richter:innen brüten über vergilbten Kommentaren – so klischeehaft sieht es nicht mehr aus an deutschen Gerichten. Allerdings ist die Justiz von einer funktionierenden digitalen Infrastruktur vielerorts noch weit entfernt, insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Bereits die Einführung der elektronischen Akte stellt ein scheinbar kaum zu bewältigendes Mammutprojekt dar. Vor diesem Hintergrund mutet der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) an deutschen Zivilgerichten an wie ein Science-Fiction-Szenario, insbesondere vor dem Eindruck des letzten RiStA-Tags 2023 in Weimar. Dieser hat sich zwar auf dem Papier dem Thema Künstlicher Intelligenz verschrieben, die arrivierte Richterschaft zeigte sich davon jedoch wenig begeistert.
Liegt dies unter anderem daran, dass "KI" als bedrohliche Erscheinung empfunden wird und gar nicht so richtig klar ist, was alles zum KI-Begriff zählt? Eine offizielle, greifbare Definition lässt sich jedenfalls nicht ohne Weiteres finden.
Im Gegensatz zur elektronischen Akte – ein Akten-Handhabe-System, mit dem Akten bzw. Schriftsätze statt in Papierform digital erstellt, bearbeitet und verschickt werden können – übernimmt KI einen Teil der Denkarbeit der Anwendenden. Charakteristisch ist laut KI-Verordnung der EU vom 21. April 2021, dass eine KI im Hinblick auf vom Menschen festgelegten Zielen, Ergebnisse (etwa Inhalte, Vorhersagen, Empfehlungen oder Entscheidungen) hervorbringt.
Laut einem Grundlagenpapier der Justiz lässt sich KI im Wesentlichen in drei Kategorien einteilen. Es existieren demnach Systeme, die auf einer Wissensbasis aufbauen und in der Lage sind, diese auszuwerten. Daneben gibt es den Bereich der Mustererkennung bzw. des klassischen maschinellen Lernens, und schließlich des sogenannten Deep Learnings. Der Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien besteht in der Methode des Lernens und der Art der verwendeten Daten. Während für das klassische maschinelle Lernen bestimmte Merkmale noch manuell von einem Menschen vorgegeben werden müssen, erkennen und verarbeiten Deep Learning-Algorithmen diese bereits allein. Grundlage dafür ist ein künstliches neuronales Netzwerk, das an die Funktionsweise des menschlichen Gehirns angelehnt ist.
KI als Rettungsanker in den Massenverfahren
Kleiner Spoiler: Es lassen sich mehr oder weniger ausgefeilte Justiz-KI-Anwendungen auf dem unübersichtlich wirkenden Flickenteppich aus Pilotprojekten, Forschungsvorhaben und Machbarkeitsstudien finden. Ausgeprägte Deep-Learning-Technologien wie ChatGPT sind allerdings, soweit beurteilbar, an Gerichten und bei der Staatsanwaltschaft nicht vertreten.
Für ein mulmiges Bauchgefühl und die rot blinkende Warnleuchte mit der Aufschrift "RoboJudge" besteht also kein Anlass. Die Stimmen der Justiz sind sich einig, dass Richter:innen in ihrer Tätigkeit nicht ersetzt werden sollen. "Die Entscheidung über den jeweiligen Fall soll am Ende immer ein Mensch treffen", betont gleich einem Mantra nahezu jede Person, mit der man über KI in der Justiz spricht. Roboter, die ein komplettes Verfahren selbständig bearbeiten und Urteile fällen, sind also derzeit weder geplant noch beabsichtigt.
Vielmehr soll KI an den deutschen Zivilgerichten lediglich assistierende Funktionen ausüben. Sie soll den Richter:innen nicht ihre Kernaufgaben abnehmen, sondern ihnen unterstützend und zeitsparend unter die Arme greifen. Vor allem beim wachsenden Problem der Massenverfahren, das die Justiz nach Angaben des Richterbundes einem Kollaps nahe bringt, scheint KI die Hoffnung eines Rettungsankers zu sein. Charakteristisch für diese Verfahren – und deshalb geeignet für den Einsatz von KI – sind: Nur wenige rechtlich relevante Variablen und eine hohe zu erwartende Fallzahl. Die Klassiker darunter bilden die Fluggastrechte- und Dieselklagen.
Wie "OLGA" am OLG Stuttgart in Dieselsachen unterstützt
Für letztere erhalten die Richter:innen am Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart Unterstützung durch eine KI namens "OLGA" – die Abkürzung für "Oberlandesgerichtsassistent". Das Programm ist seit November 2022 in den Massenverfahren der Dieselsachen, in denen nahezu jedes Verfahren in die Berufung geht, in den vier Dieselsenaten im Einsatz, wie Richter am OLG Jan Spoenle gegenüber LTO erläutert. Zuständig ist er sowohl inhaltlich für Dieselverfahren, als auch für den Einsatz von KI am Gericht.
"Die manuelle Sachverhaltsprüfung in Massenverfahren gestaltet sich sehr aufwändig und eintönig", so Spoenle. "180-seitige Schriftsätze sind keine Seltenheit. Viele dieser Verfahren sind ähnlich bis gleich gelagert und lassen sich in Fallgruppen einteilen. Die Zuordnung der Verfahren zu diesen Fallgruppen ist jedoch wiederum für die Richterinnen und Richter sehr zeitaufwändig", erklärt Spoenle weiter. Diese Zuordnung werde nun durch "OLGA" erledigt: Aus der Fülle von Informationen pickt es sich aus den digitalen Akten nur diejenigen heraus, die es zur Zuordnung braucht. Das Programm kann Tenor, Tatbestand, Anträge etc. erkennen, einen Text durchsuchen und gewichten. "OLGA" analysiert das erstinstanzliche Urteil, die Berufungsbegründung sowie die Berufungserwiderung und durchsucht sie auf von Richter:innen zuvor festgelegte Parameter, etwa Fahrzeug- und Motortyp, Kilometerstand oder Kaufpreis. Anschließend ordnet es den Sachverhalt anhand dieser Parameter den Fallgruppen zu, die die Rechtsprechung des OLG Stuttgart abbilden. Nach diesen Parametern können die Richter:innen schließlich gezielt suchen, sich alle dazugehörigen Fälle anzeigen lassen und sie somit gezielter bzw. gesammelt bearbeiten und terminieren.
" 'OLGA' ist also ein intelligenter Rechercheur mit richterlichen Ordnungsvorgaben, trifft aber selbst keine Entscheidungen", konkretisiert Spoenle bei Demonstration des Programms, was optisch wie eine fortgeschrittene Suchmaschine mit verschiedenen Feldern, Spalten und Optionen beschrieben werden kann
Darüber hinaus kann "OLGA" auch dabei helfen, bereits vorliegende Musterbeschlüsse zu individualisieren, indem es an der passenden Stelle die erkannten Parameter einfügt und auf einen Fall und Kläger zuschneiden. Schließlich entsteht mit wenigen Klicks ein fertiges Beschluss-Dokument, wie Spoenle für LTO demonstriert.
Am LG Kiel erarbeitet KI auch Entscheidungsvorschläge
Auch am Landgericht (LG) Kiel läuft seit kurzem die Testphase eines ähnlichen KI-Tools. Es soll laut der Pressesprecherin des LG in Versicherungsverfahren bei Klagen wegen Beitragserhöhungen in der privaten Krankenversicherung zur Anwendung kommen.
Nach Angaben des LG ist das Tool eine Software zur Bearbeitung wiederkehrender Fallkonstellationen, anhand derer nach Eingabe von Falldaten ein Entscheidungsvorschlag angefertigt wird. Es sei in der Lage sein, die eingereichten Schriftsätze zu durchsuchen, bestimmte Informationen auszulesen und diese nach einer von den Richter:innen der Kammer vorgegebenen Entscheidungslogik zu behandeln. Anhand dieser Logik schlage das Programm ein Ergebnis und die dazugehörenden Textbausteine vor. Wie groß da die Versuchung für (gestresste) Richterinnen und Richter ist, Bausteine mehr oder weniger so zu übernehmen ist offen. Vielleicht bräuchte es dafür interne Guidelines? Alles in allem, ist hier noch einiges in Bewegung.
Es werde nun zwei Jahre lang getestet, in der Hoffnung, dass damit perspektivisch auch andere Massenverfahren anderer Themengebiete effizienter bearbeitet werden können, erläutert die Pressesprecherin auf Nachfrage von LTO.
"FRAUKE" wartet in Frankfurt auf Weiterführung
Ein ähnliches Programm namens "FRAUKE" (FRAnkfurter Urteils-Konfigurator Elektronisch) wurde im Jahr 2021 für 8 Wochen als Machbarkeitsstudie am Amtsgericht (AG) Frankfurt am Main getestet. Es wurde anhand abgeschlossener Fälle in den Fluggastrechteverfahren erprobt. Auch "FRAUKE" extrahiert aus dem Prozessvorbringen der Parteien wesentliche Kernelemente, etwa die Flugnummer, die Flugunregelmäßigkeit und auch zur Entlastung vorgetragene Argumente, beschreiben das AG Frankfurt und das Hessische Justizministerium auf Nachfrage von LTO. Anschließend kann das Programm diese Informationen aufbereiten, Entscheidungen zu vergleichbaren Sachverhalten heranziehen und Formulierungsvorschläge für eine richterliche Entscheidung unterbreiten.
"FRAUKE" schien ihre Sache jedenfalls gut gemacht zu haben: Das AG Frankfurt gab an, die Studie habe eine perspektivische Funktionalität gezeigt und das Feedback zur Nutzererfahrung sei positiv gewesen. Das Hessische Justizministerium habe die Mittel dafür bewilligt, dass das Projekt fortgeführt und weiterentwickelt werden dürfe, was unter Federführung der IT-Stelle der Hessischen Justiz geschehen solle, so das AG Frankfurt weiter. Viel mehr Konkretes ist aktuell nicht zu erfahren.
Tool für Urteils-Anonymisierung und Gerichtspost in Bayern
Demnächst soll in Bayern ein System getestet werden, das automatisiert Urteile anonymisiert und bei dessen Entwicklung ein großes KI-Sprachmodell zum Einsatz kam, schildern Dr. Martin Wachter und Christina-Maria Leeb vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz auf Anfragen von LTO.
Derzeit würden Urteile in der gerichtlichen Praxis manuell anonymisiert, verbunden mit einem hohen personellen und zeitlichen Ressourcenaufwand. "Bei der Anonymisierung geht es nicht nur um offensichtliche Daten wie Namen und Adressen. Auch Informationen, die Rückschlüsse auf eine bestimmte Person zulassen, etwa den Inhaber der einzigen Tankstelle in einem bestimmten Ort, sollten soweit möglich anonymisiert werden. Die Unterstützung durch ein geeignetes Tool könnte hier erheblich Entlastung bringen", so Wachter und Leeb. Perspektivisch könnten mit dem Datenmaterial vieler veröffentlichter Urteile wiederum neue Legal Tech-Anwendungen für die Bevölkerung, aber auch für den unterstützenden Einsatz in der Justiz trainiert werden.
Darüber hinaus testen die Justiz in Bayern und Rheinland-Pfalz laut Pressemitteilung des Bayrischen Justizministeriums seit Ende Juni "eine neue KI-Software" am LG Ingolstadt. Diese soll die Zivilgerichte bei der Ankunft von Gerichtspost in Zeiten von Massenverfahren entlasten, da trotz elektronischer Form der Post wichtige Verfahrensdaten per Hand übertragen werden müssten. Erprobt werde nun ein Texterkennungssystem, das Daten automatisiert erkennen und auslesen soll.
Gibt es bald ein eigenes ChatGPT für die Justiz?
Zusammen mit Nordrhein-Westfalen will Bayern zudem eine Art ChatGPT für die Justiz entwickeln. In einem Forschungsprojekt wollen die beiden Bundesländer anhand mehrerer Pilotprojekte ein speziell auf die Bedürfnisse der Justiz abgestimmtes Sprachmodell entwickeln und erproben, heißt es in einer Pressemitteilung der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Es soll aktiv mitgestaltet werden, wie mit dem Generativen Sprachmodell der Justiz (GSJ) ein Large Language Model für die Justiz in Zukunft aussehen und für welche Zwecke es eingesetzt werden könne.
Angesichts eines mit ChatGPT und anderen privaten Angeboten bereits vorhandenen Sprachmodells ein Aufwand, der wohl wegen der im gerichtlichen Zusammenhang besonders sensiblen Daten betrieben wird, mit denen man ChatGPT und Co nicht sorglos füttern möchte.
Science-Fiction-Visionen oder realistische Zukunftsperspektiven?
Auch am OLG Stuttgart existieren weitere Ideen. "Für die Zukunft stellen wir uns vor, dass verschiedene KI-Werkzeuge passend zum jeweiligen Nutzungsszenario zum Einsatz kommen können. Die IT-Verantwortlichen unseres Justizministeriums planen hierzu eine KI-Plattform, damit KI-Anwendungen über eine Schnittstelle mit den Daten aus den jeweiligen eAkten-Systemen arbeiten können", so Spoenle.
Ob diese Zukunftsmusik in absehbarer Zeit flächendeckend in der Realität erklingen wird? Die KI-Anwendungen, die derzeit im Einsatz sind, sind ein lobenswerter Anfang. Besonders zahlreich und aufeinander abgestimmt sind sie jedoch nicht. Zudem sind viele Gerichte noch längst nicht infrastrukturell vorbereitet. In Zeiten, in denen Richter:innen aufgrund unterschiedlicher, nicht kompatibler Systeme digital eingehende Dokumente noch ausdrucken, bearbeiten und wieder einscannen müssen, bleibt momentan insgesamt eher der Eindruck des Science-Fiction-Szenarios.
"OLGA", "FRAUKE" & Co in der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 14.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52249 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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