In deutschen Gerichtssälen und Gefängnissen gibt es immer häufiger Angeklagte und Gefangene ab 60 Jahren aufwärts. Ob kürzere Prozesstage oder ein altersgerechter Zellenumbau – die Justiz steht vor neuen Herausforderungen.
Die Alterung der Gesellschaft beschäftigt zunehmend auch die Justiz - und zwar nicht nur in Form des Nachwuchsmangels. Senioren landen bundesweit häufiger selbst auf der Anklagebank. So steht in Münster eine 86-Jährige vor Gericht, weil die Demenzkranke ihren Ehemann mit einem Holzschrubber erschlagen haben soll. In Rheinland-Pfalz wird ein 83-Jähriger zu einer Haftstrafe verurteilt: Er erstickte seine Ehefrau mit einer Plastiktüte - nachdem er sie jahrelang gepflegt und dann keine Kraft mehr hatte. In Düsseldorf wird ein 91-Jähriger angeklagt, weil er in seinem Auto beim Abbiegen eine Fußgängerin übersehen und tödlich verletzt haben soll.
In der Hauptstadt sieht Oberstaatsanwalt Ralph Knispel darin eine klare Entwicklung: "Wir haben jetzt deutlich mehr Angeklagte, die älter als 60 Jahre sind." Das hänge mit der demografischen Entwicklung und dem längeren Leben von Menschen zusammen. Darauf müsse sich die Justiz einstellen, sagt Knispel der Deutschen Presse-Agentur.
Damit einher gehen besondere Anforderungen wie diese: "Mancher ist nicht mehr in der Lage, ganze Prozesstage durchzustehen." Bei Krankheiten werde dann nur stundenweise verhandelt, dafür müssten aber mehr Termine angesetzt werden. Zudem sei zu berücksichtigen, wenn ein Angeklagter im höheren Lebensalter als Ersttäter vor Gericht steht.
Eigene Gefängnis-Abteilungen für ältere Insassen?
Werden Ältere verurteilt, kommen sie wie andere Straftäter ins Gefängnis. Nach den letzten veröffentlichten Zahlen saßen zum Stichtag am 25. April 2018 allein in den Haftanstalten der Hauptstadt 142 verurteilte Straftäter ab 60 Jahren aufwärts. Davon waren neun älter als 75. Aktuell ist der älteste Gefangene Jahrgang 1933.
Der Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands geht davon aus, dass deutschlandweit die Zahl Gefangener höheren Alters weiter zunimmt. Eine geriatrische, also altengerechte Einzelbetreuung sei aber meist nicht machbar, sagt René Müller, Vorsitzender der Gewerkschaft Strafvollzug, der Deutschen Presse-Agentur. "Und uns fehlen nach wie vor etwa 2.000 Bedienstete." Sein Beispiel: Wenn ein Justizmitarbeiter 30, 40 Leute zur Freistunde auf den Gefängnishof führt und alle müssten minutenlang auf einen alten Mann warten, der nicht mehr richtig laufen kann, könne das schon mal zu Aggressionen führen. Ältere Gefangene seien auch gefährdet, von Jüngeren schikaniert zu werden.
Müller bringt deshalb folgende Idee ins Spiel: Bundesweit sollten Zentren für geriatrische Betreuung als Abteilungen in Gefängnissen eingerichtet werden. Aber nicht in allen, sondern in vier nach geografischer Lage für ganz Deutschland - Nord, Süd, Ost und West. Über Kooperationen von Bundesländern könne sodann geregelt werden, dort geschultes Personal zu konzentrieren und die Kosten für altersgerechte Umbauten zu teilen.
Berlin: Vier Prozent der Gefangenen sind über 60 Jahre
In Berlin teilt die Justizverwaltung auf Anfrage mit, dass die Zahl der Inhaftierten in den letzten Jahren zurückging, der Anteil älterer Gefangener aber steigt. Derzeit sitzen knapp 4.000 Inhaftierte in den Gefängnissen der Hauptstadt. Die Statistik zeigt, dass bis 1997 ältere Gefangene, also solche ab 60 Jahren, ein Prozent der Inhaftierten ausmachten. Bis 2018 stieg der Anteil auf vier Prozent.
Aus der Justizverwaltung von Senator Dirk Behrendt (Grüne) heißt es, man habe sich auf das besondere Klientel eingestellt. Im Gefängnis Tegel könnten Ältere bei speziellen Sportprogrammen mitmachen. In Moabit würden Denk- und Logistikspiele mit extragroßen Symbolen fürs Gedächtnistraining ausgeliehen. Insgesamt seien in Berlin 21 Hafträume barrierefrei. Zudem stünden Älteren Yoga, Kunst- und Musikgruppen in den Anstalten offen. Und der Humanistische Verband berate zu "altersspezifischen Fragen" etwa zu Pflegediensten nach der Haftentlassung.
Dass Ältere im Gefängnis sterben, möchte aber niemand. Es werde versucht, solche Inhaftierten zu begnadigen oder vorzeitig aus der Haft zu entlassen, sagt ein Sprecher der Justizverwaltung. Auch die Unterbringung in einem Pflegeheim sei denkbar.
dpa/mgö/LTO-Redaktion
Demografischer Wandel beschäftigt die Justiz: . In: Legal Tribune Online, 01.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36193 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag