Umfangreichere Strafverfahren, Asylverfahren, Pensionierungswelle und Nachwuchssorgen. Die deutsche Justiz arbeitet trotz Personalaufstockung im letzten Jahr am Anschlag. Eine Umfrage in den Bundesländern liefert neue Zahlen.
Das neue Jahr beginnt aus Sicht der Justiz nicht unter guten Vorzeichen. Sie arbeitet in vielen Teilen Deutschlands an der Belastungsgrenze. Das ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur in den Bundesländern. Obwohl viele Länder das Justizpersonal demnach bereits kräftig aufstocken, mangelt es vielerorts weiter an Personal. Richter und Staatsanwälte ächzen unter einer Klageflut etwa bei Asylverfahren. Strafverfahren ziehen sich oft in die Länge oder müssen eingestellt werden. Verdächtige müssen wegen der Überlastung der Justiz auf freien Fuß gesetzt werden.
Der Deutsche Richterbund schlägt Alarm. "Die Arbeitsbelastung insbesondere in der Strafjustiz ist enorm hoch", sagte Geschäftsführer Sven Rebehn der dpa. "Vor allem die Staatsanwaltschaften haben sich zum Nadelöhr bei der Strafverfolgung entwickelt." Nach den Berechnungen des Verbandes braucht Deutschland 2.000 zusätzliche Richter und Staatsanwälte.
Die Strafverfahren sind laut Rebehn häufig viel aufwendiger als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Häufig hätten Strafverfahren Auslandsbezüge und richteten sich gegen international verzweigte Tätergruppen. Die auszuwertenden Datenmengen hätten sich vervielfacht - nicht selten fallen in Strafverfahren Hunderte Stehordner und mehrere Terabyte Daten an. Verfahren werden eingestellt oder dauern länger. "Das sind deutliche Anhaltspunkte für eine überlastete Justiz", sagte Rebehn.
Straftätern kann nicht fristgerecht der Prozess gemacht werden
Die deutsche Justiz scheitert zudem immer wieder daran, mutmaßlichen Kriminellen fristgerecht den Prozess zu machen. Immer wieder müssen Untersuchungshäftlinge trotz schwerer Tatvorwürfe auf freien Fuß gesetzt werden, weil die Gerichte nicht hinterherkommen. Der Richterbund spricht von zuletzt 50 Fällen pro Jahr.
Personelle Engpässe am Landgericht (LG) Stuttgart hatten etwa dazu geführt, dass zwei mutmaßliche Straftäter im November vor ihrem Prozess aus der Untersuchungshaft freigelassen werden mussten. Beide Männer waren seit April wegen versuchten Totschlags inhaftiert. Auch in Mecklenburg-Vorpommern platzt zuletzt ein Prozess und der Angeklagte musste aus der Untersuchungshaft entlassen, weil ein Richter erkrankt war und ein weiterer kurz vor der Rente steht. Allein in Sachsen mussten 2018 laut Landesjustizministerium bis Mitte Dezember 14 U-Häftlinge nach Überschreiten der Sechs-Monats-Frist freigelassen werden.
Viele Länder haben begonnen, die Justiz personell kräftig aufzustocken, wie eine Umfrage der dpa ergab. Allein in Baden-Württemberg wurde die Justiz seit 2016 mit 700 neuen Stellen gestärkt. Seitdem gibt es 251 zusätzliche Richter und Staatsanwälte - dennoch fehlen noch Dutzende für eine volle Ausstattung. Zur Bewältigung der "aktuellen Flut" an Asylverfahren sind 2019 weitere 80 neue Stellen für Verwaltungsrichter sowie 48 Stellen für Servicekräfte vorgesehen.
In Hessen sind in der vergangenen Legislaturperiode mehr als 500 Stellen in der Justiz geschaffen worden. In Hamburg wurden seit 2015 170 neue Stellen bei Staatsanwaltschaft und Gerichten geschaffen, weitere 31 sollen hinzukommen. In Sachsen kamen in den vergangenen vier Jahren 120 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte hinzu. In Rheinland-Pfalz sind im Doppelhaushalt 2019/20 265 zusätzliche Stellen in der Justiz über alle Laufbahnen und Bereiche hinweg geplant. Auch die Bundesländer stocken die Justizstellen auf.
Ist der Staatsdienst für Berufsanfänger nicht attraktiv genug?
Trotz massiver Anstrengungen fehlen in den meisten Ländern noch Richter und Staatsanwälte - in Hessen allein sind es laut Richterbund 300. Die Justiz stehe vor alten und neuen Herausforderungen, sagte der Sprecher der hessischen Richter, Johannes Schmidt.
In Bayern fehlen mehr als 150 Staatsanwälte und Richter. "Der Personalbestand der bayerischen Justiz ist auf Kante genäht", sagte eine Ministeriumssprecherin. Das Ministerium zählte zum Jahresende 2017 insgesamt 753 sogenannte Arbeitskraftanteile (AKA) bei den Staatsanwälten und bezifferte den Personalbedarf auf 948 AKA - ein Minus von 195 Stellen. "Die Justiz arbeitet nach wie vor an der obersten Grenze ihrer Belastbarkeit", sagte die Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins, Andrea Titz.
Die Justizbehörden kämpfen vielerorts um Nachwuchs - und konkurrieren dabei mit Kanzleien und Unternehmen und den lukrativen Jobs dort. "Der Arbeitsmarkt für Juristen ist hart umkämpft", sagt der Vorsitzende des niedersächsischen Richterbunds, Frank Bornemann. Viele Jurastudenten würden es vorziehen, nach ihrem Abschluss in die Wirtschaft zu gehen. Die Richterbesoldung sei für viele Berufsanfänger nicht attraktiv. Ähnlich sieht das auch der Richterbund in Hessen. Ihr Sprecher monierte, das fehlende Konzept der Justizverwaltung, wie auf all das reagiert werden solle. Der Richterbund fordert höhere Gehälter, mehr Personal und eine bessere technische Ausstattung, um mehr Juristen dazu bewegen zu können, in den Staatsdienst einzutreten.
Pensionierungswelle verschärft die Personalsituation
Das Personalproblem der Justiz wird von einer anrollenden Pensionierungswelle verschärft. In Thüringen etwa gehen bis zum Jahr 2031 nach Angaben des Landesjustizministeriums zwei Drittel der Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand. Der Thüringer Richterbund glaubt nicht daran, dass die Stellen im nötigen Umfang neu besetzt werden können. "Die Politik hat dieses Problem lange verdrängt", kritisiert der Landesvorsitzende Holger Pröbstel. In Rheinland-Pfalz gehen laut Justizministerium bis zum Jahr 2026 von derzeit 987 Richtern und Staatsanwälten etwa 23,5 pro Jahr in den Ruhestand, in den darauffolgenden acht Jahren werden es etwa 34 pro Jahr sein.
Bundesweit gehen bis zum Jahr 2030 laut Deutschem Richterbund etwa 40 Prozent aller Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand. "Umso wichtiger ist es, dass die Politik jetzt reagiert und den versprochenen Bund-Länder-Pakt für den Rechtsstaat im Januar 2019 endlich in die Tat umsetzt", sagt Rebehn vom Deutschen Richterbund.
In ihrem Koalitionsvertrag hatten Union und SPD einen "Pakt für den Rechtsstaat" vereinbart. Darin heißt es, dass 2.000 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte sowie für entsprechendes Folgepersonal geschaffen werden sollen. "Wer den Rechtsstaat durchsetzen will, muss ihn entsprechend ausstatten", sagte Bundesjustizministerin Katarina Barley der dpa.
Zwischen den Ländern und Barley brach zuletzt offener Streit über die Finanzierung aus. Die Justizminister der Länder forderten auf ihrer Konferenz im November, der Bund müsse sich nicht nur einmalig an den Kosten für die 2.000 neue Posten beteiligen, sondern langfristig. Die Länder pochen zudem immer stärker auf eine rasche Umsetzung des Pakts.
dpa/mgö/LTO-Redaktion
Umfrage bei Länder-Justiz: . In: Legal Tribune Online, 02.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32973 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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