Das Gesetz zum Verbot geschlechtszuweisender Operationen an intergeschlechtlichen Kindern ist in Kraft getreten. Ein wichtiger Schritt, der aber hinter menschenrechtlichen Standards zurückbleibt, meinen Lea Beckmann und Fabrizia von Stosch.
Nach einem dreijährigen Gesetzgebungsverfahren ist es kürzlich in Kraft getreten: Ziel des "Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung" ist es, medizinisch nicht notwendige Behandlungen an einwilligungsunfähigen intergeschlechtlichen Kindern zu verhindern.
Intergeschlechtliche Kinder werden bis heute häufig operiert, um ihre Körper an normative Vorstellungen von "männlich" oder "weiblich" anzupassen – ohne dass für diese weitreichenden Eingriffe in ihre körperliche Integrität und ihre zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten eine medizinische Notwendigkeit besteht. Eltern stimmen solchen Eingriffen oft unter dem Eindruck ärztlichen Rates zu.
Doch diese auch als Intersex-Genitalverstümmelung (Intersex Genital Mutilation, IGM) bezeichneten Eingriffe verletzen die körperliche Unversehrtheit sowie die geschlechtliche Selbstbestimmung intergeschlechtlicher Kinder. Zudem verstoßen sie gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.
Was regelt das neue Gesetz?
Der neue § 1631e BGB stellt klar, dass die elterliche Sorge nicht das Recht umfasst, bei einem Kind mit "Varianten der Geschlechtsentwicklung" einer Behandlung zuzustimmen oder diese selbst durchzuführen, wenn es allein darum geht, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an die binäre Geschlechtervorstellung anzupassen. Eltern können nur dann in geschlechtszuweisende Operationen einwilligen, wenn diese nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden können. Die Einwilligung bedarf der familiengerichtlichen Genehmigung. Ob eine solche erteilt wird, hängt maßgeblich vom Kindeswohl ab.
Im Vorfeld können Eltern zudem die Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission anfragen. Diese setzt sich aus behandelnden und nicht behandelnden Ärzt:innen, einer Person mit psychologischer, psychotherapeutischer oder psychiatrischer Qualifikation sowie einer ethisch fortgebildeten Person zusammen (§ 1631e Abs. 4-5 BGB). Auf Wunsch kann zusätzlich eine Peer-Beratungsperson hinzugezogen werden. Beides ist freiwillig, und die Eltern müssen sämtliche Kosten tragen.
Befürwortet die Kommission den geplanten Eingriff, bewirkt dies materiell-rechtlich eine Vermutungswirkung dafür, dass der Eingriff dem Kindeswohl entspricht (§ 1631e Abs. 3 S. 3 BGB). Prozessual führt das zu einem vereinfachten gerichtlichen Genehmigungsverfahren, indem insbesondere von der Bestellung eines Verfahrensbeistands abgesehen wird (ebenfalls neu eingefügter § 167b Abs. 1 FamFG).
Wichtiger Schritt, aber lückenhafter Schutz
Die explizite gesetzliche Verankerung des grundsätzlichen Verbots sowie die verbesserte Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle geschlechtszuweisender Eingriffe ist ein wichtiger, längst überfälliger Schritt. Etliche internationale Menschenrechtsgremien hatten Deutschland bereits vor Jahren dazu aufgefordert, darunter der Frauenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (VN), der VN-Behindertenrechtsausschuss, der VN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und der VN-Antifolterausschuss.
Gleichwohl bestehen auch nach neuer Rechtslage weiterhin eklatante Lücken im gesetzlichen Schutz für Kinder, die mit den menschen- und grundrechtlichen Schutzvorgaben nicht vereinbar sind. Spätestens bei der verpflichtenden Evaluierung des Gesetzes in fünf Jahren wird die Bundesregierung diese Punkte aufgreifen müssen; hierauf weisen auch OII Germany (Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen), Intersexuelle Menschen e.V. und das Deutsche Institut für Menschenrechte in ihren Stellungnahmen hin.
Mediziner:innen legen Kreis der geschützten Kinder fest
Problematisch ist beispielsweise, dass die Regelung sich nur auf Kinder mit "Varianten der Geschlechtsentwicklung" bezieht, die "weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden konnten". Die Regelung hält damit an einer wissenschaftlich widerlegten Binarität der Geschlechter fest und setzt die Pathologisierung und Stigmatisierung intergeschlechtlicher Menschen weiter fort.
Zudem wird der Kreis der geschützten Kinder damit der Deutungshoheit von Mediziner:innen überlassen; ordnen sie ein Kind nicht entsprechend ein, profitiert es nicht von der Schutzregelung. Das bedeutet, dass normangleichende Behandlungen an den Genitalien von Kindern, die nicht medizinisch notwendig sind, in sehr praxisrelevanten Konstellationen möglich bleiben.
So gehört es zum Spektrum der Eingriffe, die aus menschenrechtlicher Sicht von dem Verbot erfasst werden müssen, die Vagina von Kindern durch "Bougieren" aufzudehnen, um sie für penetrativen Geschlechtsverkehr vorzubereiten. Diese teilweise traumatisierende Behandlung wird auch bei Kindern durchgeführt, denen ärztlicherseits keine "Varianten der Geschlechtsentwicklung" attestiert werden. Die unnötige Verengung des Anwendungsbereiches der neuen Vorschrift lässt sie schutzlos.
Fehlende Sanktionen, keine Entschädigungen für vergangene Operationen
Obgleich medizinische Leitlinien keine Indikation mehr für rein kosmetische Operationen vorsehen, legen Studien nahe, dass sie bis Ende 2016 nicht rückläufig waren und weiterhin durchgeführt wurden. Es scheint diesbezüglich an Problembewusstsein zu mangeln; bezeichnend ist insofern die Stellungnahme der Bundesärztekammer, die Vorwürfe nicht "erforderlicher" Eingriffe zurückweist und das Gesetz als unnötige bürokratische Hürde und unangemessenen Eingriff in die ärztliche Berufsfreiheit rügt.
Selbstvertretungsorganisationen beklagen angesichts der mangelnden Einsicht von Mediziner:innen seit langem fehlende Sanktionen. In Betracht kommen einzig Strafanzeigen wegen Körperverletzung. Dabei müssten die Betroffenen die Unwirksamkeit der elterlichen Einwilligung in medizinisch nicht gebotene, folgenreiche Eingriffe darlegen – eine hohe Hürde und zugleich eine zwingende familiäre Konfliktlage. Zivilrechtlich kommen insbesondere verschuldensabhängige Schadensersatzansprüche (§§ 280 Abs. 1, 630a ff. BGB; § 823 BGB) gegen medizinische Einrichtungen in Betracht.
Angesichts der Erschwernisse bei der individuellen Rechtsdurchsetzung ist es bedauerlich, dass nicht nur auf Sanktionen verzichtet, sondern auch keine Entschädigungsmöglichkeit für vergangene, menschenrechtsverletzende Operationen geregelt wurde, wie sie der VN-Fachausschuss gegen Folter empfohlen hatte.
Probleme bei Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche
Die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche birgt etliche praktische wie rechtliche Herausforderungen. Viele intergeschlechtliche Menschen wissen lange nicht, welche Maßnahmen an ihnen überhaupt durchgeführt wurden.
Um zu gewährleisten, dass die betroffenen Kinder später als Erwachsene die Behandlung und deren Rechtmäßigkeit prüfen können, müssen behandelnde Ärzt:innen die Akten nunmehr nicht nur zehn Jahre (§ 630f Abs. 3 BGB), sondern bis zur Vollendung des 48. Lebensjahres der betroffenen Personen aufbewahren (§ 1631e Abs. 6 BGB). Das stellt eine bedeutsame Änderung dar. Leider wurde darüber hinaus kein Zentralregister eingeführt, das den Betroffenen das Auffinden von Informationen entscheidend erleichtern könnte.
Verjährung aller Ansprüche spätestens nach 30 Jahren
Erlangt ein Elternteil oder die volljährige Person später davon Kenntnis, dass sie unzureichend aufgeklärt wurden oder der Eingriff nicht indiziert oder fachgerecht war, verjährt der Anspruch der betroffenen Person innerhalb von drei Jahren (§§ 195, 199 Abs. 1 BGB). Dasselbe gilt bei grob fahrlässiger Unkenntnis. Nach spätestens 30 Jahren verjähren alle Ansprüche, selbst bei vorsätzlich rechtswidrigen Eingriffen (§ 199 Abs. 2 BGB; § 197 Abs. 1 Nr. 1 BGB).
Wird ein Eingriff, wie es häufig der Fall ist, vor Vollendung des zweiten Lebensjahres durchgeführt, droht eine absolute Verjährung damit weit vor dem 48. Lebensjahr. Doch auch wer als Kind Kenntnis von rechtswidrigen Eingriffen erhält, mag erst als erwachsene Person – auch im Lichte der oft lebenslangen schweren Folgen – zu der Einsicht kommen, dass darin ein Unrecht liegt.
Da Betroffene eigenes Erleben erst spät reflektieren und hinsichtlich Verjährungsbeginn und -dauer Rechtsunsicherheiten bestehen können, ist eine Verlängerung dieser Verjährungsfrist eine langjährige und dringende menschenrechtliche Forderung. Das hat beispielsweise auch der VN-Frauenrechtsausschuss angemahnt.
Erste Präzedenzurteile zu rechtswidrigen Operationen
Gleichwohl sind Gerichtsverfahren ein wichtiges Mittel, die Einhaltung grund- und menschenrechtlicher Standards durchzusetzen. Inzwischen gibt es bereits erste Gerichtsentscheidungen, die klarstellen, dass operative Eingriffe an intergeschlechtlichen Menschen mangels wirksamer Einwilligung rechtswidrig sind, wenn nicht ausreichend aufgeklärt wurde (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 3.9.2008, Az. 5 U 51/08; LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 17.12.2015, Az. 4 O 7000/11). Klagen, die sich auf Operationen nach 2015 beziehen, haben noch bessere Chancen, da seitdem die in den Leitlinien der Bundesärztekammer niedergelegten medizinischen Indikationsregeln deutlich restriktiver sind.
Bis zu einem verbesserten gesetzlichen Schutz können solche Präzedenzurteile dazu dienen, Gesundheitseinrichtungen über den Einzelfall hinaus zur Beachtung medizinischer und menschenrechtlicher Standards zu bewegen und gegenüber der Politik auf Problemlagen hinzuweisen.
Lea Beckmann ist Rechtsanwältin und bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte verantwortlich für die Schwerpunktsäule Antidiskriminierung. Fabrizia von Stosch ist Praktikantin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte und studentische Mitarbeiterin bei Professor Dr. Ivo Bach am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Medizinrecht, Europäisches und Internationales Privatrecht an der Universität Göttingen.
Zwangsoperationen an intergeschlechtlichen Kindern: . In: Legal Tribune Online, 07.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45113 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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