Die Gerichte schalten auf Notbetrieb, die Anwälte wünschen sich klare Linien – doch die gibt es nicht. In Zeiten der Coronakrise stößt die Justiz in vielen Bereichen an ihre Grenzen.
Dr. Bernd Pickel, der Präsident des Kammergerichts in Berlin, hat sich klar geäußert: Das Präsidium habe allen Richtern empfohlen, "grundsätzlich alle Sitzungen aufzuheben und nur noch in unaufschiebbaren Eilfällen durchzuführen". Das betreffe nur Sitzungen, die "selbst unter Berücksichtigung der aktuellen Situation, in der es um die Gesundheit aller geht", zwingend erforderlich und unaufschiebbar seien, um "drohende erhebliche Nachteile für eine Partei oder einen Beteiligten zu vermeiden". Das gelte für Strafverfahren, Zivilverfahren und Familiensachen und werde "nur für eine sehr geringe Zahl von Verfahren des Kammergerichts der Fall sein", heißt es in einer Mitteilung des Gerichts.
Mehr als "empfehlen" kann der Gerichtspräsident allerdings nicht. Es bleibt letztlich Sache des jeweiligen unabhängigen Richters, ob er ein Verfahren durchführen will oder nicht. So hätte man sich in normalen Zeiten über "Empfehlungen" an Richter wohl mehr als gewundert. In der Corona-Krise fordern aber nicht nur Gerichtspräsidenten, sondern auch die Justizminister der Länder öffentlich, die Gerichte sollten ihren Dienst weitgehend einstellen.
Inzwischen gibt es in allen Ländern solche Ansagen, Richter sollen nur die unbedingt notwendigen Termine durchführen. Viele Gerichte stellen Notfall-Geschäftsverteilungspläne auf, auch um Ausfälle wegen Krankheit aufzufangen. Von den Berufsverbänden der Richter kommt dabei wenig Widerstand. Der Deutsche Richterbund erklärte, es sei richtig, "den Zugang zu den Gerichten jetzt auf das absolut notwendige Minimum herunterzufahren, um die Gesundheit aller Beteiligten zu schützen".
Berliner Anwaltverein schlägt Verhandlungen per Video vor
Die Anwälte ringen derweil um die Alltagsbewältigung in der Corona-Krise – sie fordern eine bessere staatliche Unterstützung mit Kinder-Notbetreuung, Krediten und Kurzarbeitergeld und wünschen sich von den Gerichten vor allem "großzügige Regelungen" bei Fristversäumnissen und Entgegenkommen bei Terminverschiebungen. Nebenbei gibt es auch noch Probleme mit dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA).
Die unübersichtlichen Regelungen an den Gerichten machen Rechtssuchenden und Anwälten zu schaffen: Für jedes einzelne Verfahren muss geklärt werden, wie es weitergeht. Die Haltung des Kammergerichts allerdings geht dem Berliner Anwaltverein zu weit. Dessen Vorsitzender Uwe Freyschmidt erklärte, die Empfehlung des Präsidiums, alle Verhandlungen aufzuheben, sei nicht akzeptabel. Stattdessen müsse die Justiz jetzt einfache technische Möglichkeiten schaffen, um die Justizgewährung auch in den nächsten Monaten sicherzustellen.
"Die Zivilprozessordnung erlaubt es, Verhandlungen ohne körperliche Präsenz der Parteien durch allgemein übliche Ton- und Bildübertragungen durchzuführen", so Freyschmidt. "Videoübertragungen können die persönliche Präsenz in Gerichtsverhandlungen auf einfachem Weg ersetzen." Hinzu komme, dass viele Zivilverfahren mit Zustimmung der Parteien auch ohne mündliche Verhandlung abgeschlossen werden könnten.
Auch Herbert Schons, Präsident der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf, schlägt vor, möglichst auf schriftliche Verfahren auszuweichen: "Wenn wir alles auf den Sommer verschieben, können wir den Rückstau nicht mehr abarbeiten." Zudem seien gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten schnelle Entscheidungen notwendig. "Die Menschen sind gerade jetzt auf einen Titel angewiesen, der dann zeitnah vollstreckt werden kann", betont Schons.
DAV: Strafprozesse "nicht auf die lange Bank schieben"
Noch schwieriger ist die Lage an den Strafgerichten. Auch hier sollen nur die notwendigsten Verfahren durchgeführt werden. Das bayerische Justizministerium empfiehlt zudem seinen Staatsanwaltschaften, möglichst auf Strafbefehlsverfahren auszuweichen – damit können etwa Geldstrafen, Fahrerlaubnisentzug und Bewährungsstrafen bis zu einem Jahr durch das Gericht festgesetzt werden, ohne dass eine Hauptverhandlung durchgeführt wird.
Das Bundesjustizministerium arbeitet zudem bereits an einer Regelung, die es den Gerichten erlauben soll, die Hauptverhandlung im Strafverfahren für maximal drei Monate und zehn Tage auszusetzen. Damit soll verhindert werden, dass Prozesse platzen. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) sieht das skeptisch. Eilige Verfahren, etwa Haftsachen, dürften "nicht auf die lange Bank geschoben werden".
Andererseits gibt es von Strafverteidigern viel Kritik an Gerichten, die tatsächlich Strafprozesse weiterführen. So schrieb etwa die Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm am Mittwoch auf Twitter, "SocialDistancing" sei offenbar noch nicht überall angekommen: "Ich muss jetzt in einen Gerichtssaal mit ca. 40 Verfahrensbeteiligten. Menschen aus 4 Bundesländern und 3 Knästen reisen an." Dabei stehe ihre Bürokollegin unter Corona-Verdacht, so Clemm.
BVerfG lehnt Eilantrag ab, sächsische Verfassungsrichter stecken Grenzen ab
Zwei Münchner Strafverteidiger versuchten unterdessen, vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe zu erzwingen, dass ein Strafprozess am Landgericht München II ausgesetzt wird. Das BVerfG wies den Eilantrag jedoch am Donnerstagabend ab (Beschl. v. 19.3.2020, Az. 2 BvR 474/20). Die Verteidiger hätten zunächst eine Beschwerde gegen die Verfügung des Landgerichts einlegen müssen, zudem hätten sie sich nicht ausreichend mit der angegriffenen Entscheidung auseinandergesetzt, so die Kammer des 2. Senats.
Bei dem Verfahren ging es um Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Am LG München II wurde heute in der Sache weiterverhandelt, wie Pressesprecher Florian Gliwitzky gegenüber LTO bestätigte. Alles in allem sei der Betrieb aber auch an den beiden Münchner Landgerichten und am Oberlandesgericht eingeschränkt, mehrere Verfahren würden abgesetzt. Seinem Eindruck nach kämen auch deutlich weniger Besucher, so Gliwitzky weiter.
Dagegen hat der Verfassungsgerichtshof Sachsen in einer Entscheidung vom Freitag erste Maßstäbe abgesteckt (Beschl. v. 20.3.2020, Az. Vf.39-IV-20). Verhandlungstermine könnten weiterhin stattfinden, sofern sie "zeitlich und personell beschränkt" und Infektionsschutzmaßnahmen eingehalten würden.
Strafjustiz an der Belastungsgrenze
Bisher weiß niemand, wie lange die Beschränkungen andauern werden. Klar ist aber, dass die Staatsanwaltschaften und Strafgerichte schon vor der Coronakrise überlastet waren. Der Berliner Fachanwalt für Strafrecht und Steuerrecht Dr. Fabian Meinecke warnt deshalb vor den langfristigen Folgen: "Die Corona-Krise stellt die ohnehin schon überlastete Strafjustiz auf die Probe. Viele Strafkammern bearbeiten schon in normalen Zeiten fast nur die vorrangigen Haftsachen. Wirtschafts- und Steuerstrafsachen werden teilweise so lange aufgeschoben, dass die Taten Jahre her sind und die Beteiligten sich kaum noch an das Geschehen erinnern können."
Wenn die Staatsanwaltschaften und Strafgerichte besser ausgestattet wären, könnten sie "auch Krisenzeiten besser bewältigen und müssten nicht fundamentale Prinzipien des Rechtsstaats zugunsten der Verfahrensökonomie opfern", so Meinecke weiter. Die geplante längere Unterbrechung von Hauptverhandlungen dürfe deshalb jedenfalls nicht zur Regel werden.
Verhandlungen sind öffentlich – aber bitte nicht zu sehr
Entscheidet sich das Gericht, eine Verhandlung durchzuführen, gilt weiterhin der Grundsatz der Öffentlichkeit. Allerdings haben die Justizministerien zumeist strikte Zugangsbeschränkungen angeordnet. So müssen Anwälte, Beteiligte und Besucher an vielen Gerichten bei der Eingangskontrolle Fragebögen ausfüllen – wer Erkältungssymptome aufweist, darf die Gerichtsgebäude nicht betreten. Außerdem sollen die Richter darauf achten, dass alle Anwesenden ausreichend Abstand einhalten.
Das LG Hamburg hat sich entschieden, auch einen Termin gegen einen 93-jährigen ehemaligen SS-Mann fortzusetzen, allerdings sollte der Termin nur zehn Minuten dauern. Pressevertreter wurden ausgeschlossen, um die Anzahl der Personen im Gerichtssaal möglichst gering zu halten.
Die Pressesprecherin der Berliner Strafgerichte bittet alle Journalisten, sich "zusammenzutun und jeweils nur einen oder zumindest wenige Medienvertreter in die stattfindenden Hauptverhandlungen zu entsenden, um eine Ansteckung auf den Presseplätzen zu vermeiden". Das sei aber: "natürlich nur eine Empfehlung".
Gerichte in der Coronakrise: . In: Legal Tribune Online, 20.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40993 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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