Beim Finanzgerichtstag in Köln standen am Montag die Richter im Dialog mit Politik, Verwaltung und Beratern. Es ging um den Gesetzentwurf zu Videoverhandlungen, den Einsatz von KI und umstrittene Entscheidungen des BFH.
Drei Richter:innenstellen werden in diesem Jahr am Bundesfinanzhof (BFH) frei. Neu besetzt werden sie nicht. "Das ist für dieses Jahr schon beschlossen", sagte Hans-Josef Thesling, Präsident des BFH am Montag in Köln. Das sei ein bedauernswertes Novum. Ob es sich nur um einen temporären Aufschub oder einen endgültigen Stellenabbau handelt, sei noch nicht entschieden. Es sei "neuer Technik und auch dem Rückgang bei den Verfahrenseingängen geschuldet, dass die Neubesetzung freiwerdender Richterstellen nicht mehr garantiert sei."
Der Einsatz neuer Technik war eines der Hauptthemen auf dem 20. Finanzgerichtstag. Dort treffen sich Teilnehmer:innen aus den Bereichen Politik, der nationalen und internationalen Richterschaft, der Finanzverwaltung, der Rechts- und Steuerberatung und auch aus der Wissenschaft. Es sei "die Veranstaltung, die den Richtern in der Finanzgerichtsbarkeit seit 20 Jahren eine Stimme verleiht", so Thesling. Die 240 Teilnehmer:innen hörten in diesem Jahr Vorträge zur viel und auch politisch diskutierten Videoverhandlung und zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Steuerrecht. Raum für Diskussionen oder fachlichen Austausch gab es bei der jährlich in Köln stattfindenden Veranstaltung nur in den Pausen.
Noch beim Richter- und Staatsanwaltstag in Weimar hatten die Teilnehmer:innen große Skepsis und starke Kritik an der Art und Weise der Digitalisierung in der Justiz geäußert. Thesling vermerkte nun die Erfolge: "Die Finanzgerichtsbarkeit hat bereits große Schritte bei der Digitalisierung geschafft", sagt er. Bald würden die Akten bundesweit digital geführt, die Korrespondenz laufe mit den Anwälten nur noch elektronisch, viele Verhandlungen würden per Video geführt, es gebe Homeoffice für die Richter und eine digitale Bibliothek. Er moniert jedoch: "In der Aufzählung fehlt die E-Steuerakte", sagt Thesling, und das sei "ein Ärgernis".
Am BFH seien im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte der Verhandlungen per Video geführt worden, Tendenz sei steigend. "Die Verfahren sind kosten- und ressourcenschonend und sehr effizient", meint der BFH-Präsident. Daher sei der Sinn nicht zu bestreiten, dass freiwerdende Stellen nicht wieder besetzt würden.
Limbach: "Akzeptanz von Videoverhandlungen erreicht man nicht mit der Brechstange"
NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne), betonte in seinem Grußwort, die Videoverhandlungen würden sich bei geeigneten Verhandlungen zum Regelfall entwickeln. Die Justiz werde nicht nur moderner und digitaler, sondern auch bürgerfreundlicher. Geboten sei jedoch, die zugrunde liegenden Gesetze auf ihre Praxistauglichkeit zu untersuchen. Das im vergangenen Jahr vorgelegte Gesetz zur Förderung von Videokonferenzen werde diesem Anspruch nicht gerecht – daher habe der Bundesrat den Vermittlungsausschuss angerufen. Er sehe es kritisch, dass Videoverhandlungen zum Regelfall werden und auf Anregung eines Beteiligten angeordnet werden sollten", so der Justizminister.
Diese Änderung ist auch aus Sicht der Richter "die wichtigste und zentrale Änderung mit großer Relevanz für alle Beteiligten in der Praxis", referierte Nils Trossen, Richter am Bundesfinanzhof. Diese Soll-Vorschrift – sobald einer der Beteiligten die Videoverhandlung beantragt, soll der Vorsitzende sie anordnen – sei "die maßgebliche Regelung für die Anrufung des Vermittlungsausschusses", erklärt Trossen. Kritiker sähen darin eine Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit. Kritisiert wird zudem: Falls ein Richter die Anordnung ablehnt, muss er dies begründen.
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hat die Bundesregierung eine weitere Regelung in den Entwurf eingefügt: Die Parteien sollen gegen die Anordnung der Videoverhandlung Einspruch einlegen können. Legt eine der Parteien Einspruch ein, findet die Verhandlung in Präsenz statt. Zudem soll es durch einen neuen § 128a Abs. 6 ZPO-E möglich sein, dass nur noch die Öffentlichkeit im Gerichtssaal sitzt, während die Verfahrensbeteiligten per Video verhandeln. "Justizkino nennen das Kritiker", erklärt Trossen.
Limbach sagte: "Ich werbe für die Akzeptanz von Videoverhandlungen, die erreicht man aber nicht mit der Brechstange." Auch für den Einsatz von KI zeigte er sich offen: NRW erprobe derzeit mit Bayern ein KI-basiertes Tool, das z.B. automatisch streitigen von unstreitigem Sachverhalt trennen und wichtige Rechtssätze aus einem Dokument extrahieren können soll.
KI in der Anwaltschaft: "Am Ende muss der Mensch stehen"
Was darüber hinaus schon längst mit KI möglich ist, zeigte Stefan Groß, Partner bei der Kanzlei PSP Peter Schönberger in München: Er entwickelte einen Avatar von sich selbst und ließ diesen im Maternushaus einige Sekunden den Vortrag übernehmen. Vorstellbar sei so ein Tool etwa beim Vorlesen von Dokumenten, das könne auf viele Stunden ausgedehnt werden.
Groß hat darüber hinaus längst ausprobiert, wie sich KI im Kanzleialltag einsetzen lässt. Er ließ ChatGPT Schreiben an Mandanten erstellen. In einem zweiten Schritt bat er, besonders freundliche Formulierungen zu wählen. So habe ChatGPT Empathie entwickelt, deren Fehlen noch oft kritisiert wird. Das Problem sei zumindest bei der Enterprise-Lösung von ChatGPT behoben, demonstrierte Groß. Auch die Vorgaben, in einfacherer Sprache zu formulieren, setzte das Programm in Sekunden um. Dass es ein mit KI generierter Text ist, erkenne man längst nicht mehr.
Darin zeigen sich die Chancen, die KI für anstehende Herausforderungen birgt: "In den nächsten Jahren fehlen tausende Fachleute in der Finanzverwaltung", sagt Groß, "da kann KI helfen, vorausgesetzt, dass man sie frühzeitig mit Steuerfachliteratur füttert. Denn die Maschine kann nichts verarbeiten, was sie nicht gelernt hat".
Noch könnten Steuerberater damit nicht arbeiten, es fehlten Inhalte und Quellenangaben. Aber der Rechtsanwalt hat zum Test eine eigene IT-Anwendung, einen so genannten Spezial-Bot, entwickelt und in ChatGPT4 mit einem Kommentar zu den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Buchführung (GoBD) kombiniert.
Nach dem Ergebnis ist er sich sicher: In kürzester Zeit werden steuerliche und juristische Gutachten über KI entworfen und vorformuliert, Schriftsätze formuliert, Literatur kann befragt oder Urteile zusammengefasst werden, Videos können transkribiert oder sogar Sachverhalte ermittelt werden. "Das mag noch ein paar Monate dauern", sagt der Anwalt, "aber es kommt". Allerdings, so Groß: "Am Ende muss der Mensch stehen, der das Ergebnis fachlich beurteilt."
"Protokollieren, dass alle wach waren"
Die fachliche Beurteilung und Darstellung von Verhandlungen per Videoübertragung übernahm für die Sicht aus der Praxis BFH-Richter Trossen. Eine der Herausforderungen sei, dass aktuell in den Bundeländern noch viele verschiedene Systeme genutzt würden. Das werde sich ändern: Die Länder hätten vereinbar, dass alle Gerichte bundesweit und über alle Fachgerichte ein einheitliches Videoportal nutzen werden.
Videoverhandlungen haben den BFH im vergangenen Jahr bereits in verschiedenen Entscheidungen beschäftigt. So beschloss er, dass bei einer Videoverhandlung alle Beteiligten zu sehen sein müssen, referierte Trossen (BFH, Beschl. v. 30.06.2023, Az. VB 13/22). In dem Fall sei von einem Beteiligten zu Recht moniert worden, dass die Kamera die meiste Zeit auf den Sprecher eingestellt war. Es müsse wohl sichergestellt und überprüft werden können, dass keiner der Richter während der Verhandlung schlafe, es liege jedenfalls laut der Entscheidung ein Verstoß gegen § 119 FGO vor, referierte Trossen.
"Diese Entscheidung ist in der Praxis sehr umstritten", erklärte der Richter. "Man kann durchaus streiten, ob ein Richter, der nicht zu sehen ist, automatisch schläft. Zudem stellt sich die Frage, ob das ein absoluter Aufhebungsgrund ist oder man den Punkt rügen muss (§ 295 ZPO), um sich auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs zu berufen." In der Praxis werde inzwischen protokolliert, dass alle Richter zu sehen waren, um spätere Rügen auszuschließen.
Ein zweiter Aufreger sei die sogenannte 180-Grad-Entscheidung des BFH (Beschl. v. 18.08.2023, Az: IX B 104/22). Da hatte ein Mann gesagt, er habe bei der Videoverhandlung nicht alle anderen Beteiligen sehen können, ohne sich umzudrehen, er habe also nicht gleichzeitig das Gericht und das zugeschaltete Finanzamt sehen können. "Das wäre nach unserer Ansicht ein Problem". Der Fall sei aber nur deshalb ein Fall geworden, weil der Beteiligte die Unwahrheit gesagt habe – er habe tatsächlich auf der Seite gesessen und alle sehen können.
"In tatsächlicher Hinsicht", sagt Trossen, "werden wir nie die gleiche Qualität bekommen wie bei Präsenzverhandlungen". Das liege in der Natur der Sache. Doch auch er ist zuversichtlich: In rechtlicher Hinsicht werde sich an der Qualität nichts ändern.
20. Finanzgerichtstag in Köln: . In: Legal Tribune Online, 24.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53711 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag