Von Geldstrafen bis zur Amtsenthebung: Die polnische Regierungspartei PiS antwortet auf ein kritisches EuGH-Urteil mit einem neuen Disziplinierungs-Gesetz für Richter. Und nimmt auch Bezug auf das deutsche Strafrecht, wie Oscar Szerkus erläutert.
Es ist mittlerweile der 30. Sanierungsversuch innerhalb von vier Jahren, doch die polnische Justiz will sich einfach nicht reformieren lassen – zumindest nicht nach den Vorstellungen des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński. Über die bisherigen Reformen wurde viel berichtet: Wegen der Umgestaltungen zahlreicher Justizgesetze hat sich Polens Regierung international einen Ruf als Troublemaker europäischer Rechtsstaatlichkeit erarbeitet.
Kurz vor den Parlamentswahlen Mitte Oktober dieses Jahres betonte der PiS-Vorsitzende siegessicher, die Justizreform sei noch nicht abgeschlossen, die "Reparatur des Staates" werde in der neuen Legislaturperiode fortgesetzt. Gerichte seien dabei von zentraler Bedeutung, denn in vielerlei Fällen seien diese die "letzte Barrikade" zur Verwirklichung von Gerechtigkeit; Konflikte mit der EU seien aber nicht beabsichtigt. Im gleichen Ton äußerte sich Premierminister Mateusz Morawiecki Mitte Dezember zu einem neuen Gesetzesvorschlag: "Zu lange haben wir auf elementare Gerechtigkeit gewartet", nun würden polnische Gerichte endlich unabhängig werden.
Die Novellierung kann auch als Reaktion auf das jüngste Urteil des EuGH vom 19. November 2019 (verbundene Rechtssachen C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18) gesehen werden. In Polen hatten drei Richter gerichtlich gegen die Versagung ihrer weiteren Berufsausübung geklagt, weil sie die neu eingeführte Altersgrenze von 65 Jahren – allerdings bereits vor deren Inkrafttreten – erreicht hatten.
Nach der Entscheidung des EuGH sehen sich alle Seiten des Konflikts als Sieger, weil nun endlich Rechtsklarheit über die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts (Sąd Najwyższy – SN) herrsche. Während sich die PiS-Regierung gerne auf die Entscheidung beruft, weil diese gerade nicht die Illegalität des Nationalen Richterrats (KRS) und der Disziplinarkammer des SN feststellt, fühlt sich aber auch die Opposition bestätigt.
EuGH lieferte "Schablone"
Wichtig ist zunächst, dass es sich jeweils um Vorabentscheidungsersuchen handelte, also um Verfahren, in denen das nationale Gericht den EuGH wegen der Auslegung von Unionsrecht anrief. Eine Entscheidung, die in Kompetenzen des vorlegenden Gerichts eingreifen oder dieses gar ersetzen würde, kann und wird der EuGH nicht treffen. Deshalb bestimmte der EuGH Maßstäbe zur Kontrolle politischer Justizreformen und lieferte damit quasi eine Schablone für eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle – und tat damit das, wozu er originär berufen ist.
Einen rechtpolitisch brisanten Ton haben die Verfahren im Zusammenhang mit der neu eingerichteten Disziplinarkammer am SN erhalten. Die Ausgangsverfahren am SN fielen nach der Gesetzesnovelle Anfang 2019 in den Zuständigkeitsbereich der Disziplinarkammer, allerdings nachdem sie bereits an einer anderen Kammer rechtshängig geworden waren. Die mit der Sache befasste Kammer des SN hatte Bedenken, ob die Disziplinarkammer verfassungs- und europarechtskonform eingerichtet und besetzt wurde. Zweifel hatte die umstrittene KRS geweckt, deren Mitglieder politisch gewählt werden. Sie schlägt dem Präsidenten die Richterkandidaten zur Ernennung vor, entscheidet de facto aber eigenständig über die Ernennung. Der Ausgangspunkt des vorlegenden Gerichts ist gut nachvollziehbar: Genügt ein Richterwahlausschuss nicht rechtsstaatlichen Prinzipien, so sind auch dessen Entscheidungen infiziert.
Diese Einschätzung teilte im Ergebnis auch der EuGH. Den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union genügt ein Gericht nicht, wenn die Art und Weise der Ernennung seiner Mitglieder "geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel (...) an ihrer Neutralität (...) aufkommen zu lassen, und daher dazu führen können, dass diese Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss."
Eingriff in die richterliche Entscheidungsfreiheit
Deshalb hob das SN am 5. Dezember 2019 den KRS-Beschluss auf, denn die KRS sei nicht unparteiisch und politisch unabhängig, daher sei auch die von der KRS legitimierte Disziplinarkammer kein Gericht, das den europäischen Standards an Rechtsstaatlichkeit genügen würde. Der Vorsitzender Richter am SN Piotr Prusinowski erinnerte, dass die EuGH-Auslegung verbindlich sei für "jedes Gericht in Polen, aber auch jede öffentliche Stelle".
Auf eine derartige Manifestation richterlicher Unabhängigkeit reagierte die PiS-Regierung nun im Dezember mit einem Gesetzesentwurf, den der Sejm (höhere Kammer des polnischen Parlaments) am 20. Dezember 2019 nun verabschiedet hat. Der Entwurf sieht eine Definition des Richters vor und soll den Status der Gerichte und abermals das Disziplinarrecht neu regeln. Richter sei, "wer durch den Präsidenten der Republik Polen in das Amt berufen wurde und den Eid vor dem Präsidenten der Republik Polen geleistet hat." Und deshalb soll es nun unzulässig sein, "die Rechtswirksamkeit anderer Gerichte oder Gerichtshöfe, verfassungsmäßiger Staatsorgane oder Institutionen der Kontrolle oder des Rechtsschutzes anzufechten." Das Verbot soll sich auf Richter erstrecken, denn "die Feststellung oder Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Berufung eines Richters oder der aufgrund dieser Berufung zustehenden Befähigung zur Rechtssprechungstätigkeit durch ein ordentliches Gericht oder ein anderes Organ der öffentlichen Gewalt ist unzulässig." Für Zuwiderhandlungen sieht das Gesetz Disziplinarstrafen bis zur Amtsenthebung vor.
Das politische Ziel ist nicht zu übersehen: Das EuGH-Urteil soll unanwendbar bleiben, weil es die Reformpläne konterkariert. Auch sollen Gerichte den Gesetzgeber unter keinen Umständen hinterfragen, sondern seine Entscheidungen auch dann hinnehmen, wenn sie ersichtlich nur Parteianweisungen verpackt als formelles Gesetz darstellen sollten. Ein so verstandener Positivismus greift in die richterliche Entscheidungsfreiheit ein. Im Unterschied zur Bindung an Gesetz und Recht, wie dies etwa Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) vorsieht, soll der Idealrichter à la PiS Vollstrecker des politischen Parteiwillens sein. Dass dies kaum rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt, dürfte auch Kaczyński einleuchten.
Deutscher Rechtsbeugungs-Paragraph als Vorbild?
Für Juristen in Deutschland interessant ist außerdem die ausdrückliche Bezugnahme im Gesetzesprojekt auf das deutsche Strafrecht, genauer gesagt auf § 339 Strafgesetzbuch (StGB). Denn PiS beruft sich bei Gesetzesänderungen gerne auf Lösungen in ausländischen Rechtsordnungen, wie zum Beispiel bei der Änderung des Wahlmodus zur KRS, die sich u.a. am Richterwahlausschuss nach dem deutschen Richterwahlgesetz (RiWG) orientieren wollte. Der § 339 StGB stellt "Rechtsbeugung" unter Strafe und adressiert vor allem Richter. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) macht sich strafbar, wer sich bewusst in schwerwiegender Weise vom Gesetz entfernt und sein Handeln statt an Gesetz und Recht an Maßstäben ausrichtet, die im Gesetz keinen Ausdruck finden und so eine Entscheidung trifft, die elementar gegen die Rechtspflege verstößt. Die Messlatte ist jedenfalls sehr hoch, erfasst werden nur ganz üble Fälle. Unzweifelhaft kann hierunter nicht subsumiert werden, wenn ein Richter sich der Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift vergewissern will.
Gleichzeitig schafft die Gesetzesänderung in Polen eine komfortable Situation für Richter, die sich hinter dem Wortlaut der neuen Verbote verstecken und die Verantwortung für das Ergebnis der Rechtsanwendung auf den politischen Gesetzgeber abwälzen wollen. Für alle anderen Richter führt die Novelle zu einer paradoxen Situation: Wer sich gesetzestreu verhält, setzt sich in Zukunft dem Vorwurf aus, rechtsstaatswidrige Institutionen zu bestätigen, Verfassungsbruch zu begehen und damit einen Zustand herbeizuführen, den der Novellierungsvorschlag gerade verhindern will. Ob es so weit kommt, ist noch unklar. Mit dem Gesetz wird sich nun die zweite Kammer des polnischen Parlaments befassen – der Senat, er hat hierfür 30 Tage Zeit. Nach Ansicht des polnischen EuGH-Richters Marek Safjan macht die PiS jedenfalls einen entscheidenden Schritt Richtung Polexit – dem Austritt Polens aus der EU.
Polens Justiz nach dem EuGH-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39419 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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