Die Entkriminalisierung der Cannabis-Konsumenten zum 1. April bereitet Strafverfolgern massive Kopfschmerzen. Der Grund: Wegen einer Art Amnestie-Regelung im Gesetz müssen tausende Akten überprüft werden. Kaum zu stemmen, meint Tim Engel.
Noch steht das Vorhaben nicht auf der Tagesordnung der kommenden Sitzungswoche des Deutschen Bundestages: Aber nach dem Plan der Ampelfraktionen soll das "Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften" (CanG) in der 8. Kalenderwoche final im Parlament gelesen und am 22. März 2024 abschließend im Bundesrat behandelt werden. Ziel ist das Inkrafttreten zum 1. April 2024. Während Cannabis-Freunde diesem Stichtag entgegen fiebern, sieht die Gemütslage bei der Justiz, insbesondere den Strafverfolgungsbehörden, komplett anders aus.
Denn für die ohnehin stark belastete Strafjustiz birgt der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der laut LTO-Informationen noch einige Änderungen erfahren wird, erhebliche Sprengkraft. Konkret geht es um Artikel 13 des Entwurfs (BT-Drs. 20/8704). Mit diesem soll eine Regelung in das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) eingefügt werden, der die Anwendbarkeit von Artikel 313 EGStGB bestimmen soll. Die Norm regelt, dass noch nicht vollstreckte Strafen zu erlassen sind, wenn die der Strafe zugrunde liegende Tat nicht mehr strafbar ist.
Im Fall des CanG bedeutet die Anwendung von Art. 313 EGStGB konkret: Mit Inkrafttreten des Gesetzes müssen bereits verhängte, aber noch nicht (vollständig) vollstreckte Strafen für Taten nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG), die nach dem CanG nicht mehr strafbar oder mit Geldbuße bedroht sind, erlassen werden. Und in Fällen tateinheitlicher oder tatmehrheitlicher Verurteilungen ("deliktische Mischfälle") wäre die (Gesamt-)Strafe gerichtlich neu festzusetzen.
Warnungen des Bundesrates blieben unerhört
Was eine solche Regelung zum 1. April 2024 für die Strafjustiz der Länder bedeutet, hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum CanG deutlich und praxisorientiert versucht, der Bundesregierung klarzumachen: Da sich am Stichtag eine Vielzahl von Verfahren noch in der Vollstreckung befänden, müssten die betroffenen Verurteilten an dem Tag unverzüglich aus der Haft oder der Maßregeleinrichtung entlassen werden.
Geht es die Justiz dabei zu langsam an, machen sich die Verantwortlichen unter Umständen strafbar: Schließlich werden bereits leichtfertige Fehler von der Strafdrohung des § 345 Strafgesetzbuch (StGB) – Vollstreckung gegen Unschuldige – erfasst. Diese erfasst sämtliche Amtsträger, also nicht nur die in der Strafjustiz mit dem jeweiligen Sachverhalt befassten Personen, sondern gleichermaßen Polizeibeamte und Bedienstete des Justiz- und Maßregelvollzugs.
Auf erhebliche Schwierigkeiten stößt bei der Prozedur die Identifizierung der einschlägigen Verfahren. Das liegt u.a. daran, dass die Verfahren aus dem Bereich der BtM-Massenkriminalität in der EDV nur unter "§ 29 BtMG" erfasst sind und diese Vorschrift auch eine Vielzahl anderer, von der Entkriminalisierung nicht erfasster Fälle umfasst.
Besonders kompliziert wird es zudem bei den angesprochenen deliktischen Mischfällen. In diesen Konstellationen wurden neben den Cannabis-Straftaten auch noch andere Straftatenbegangen, so dass eine Neufestsetzung der Strafe erfolgen muss. Hier hat der Bundesrat zu Recht auf weitere praktische Schwierigkeiten infolge des CanG hingewiesen: Die Lokalisierung der betroffenen Verfahren werde zum Problem, "da diese Verfahren oftmals auch unter anderen Strafvorschriften (…) eingetragen sind und sich ohne Sichtung des Urteils die Betroffenheit von dem rückwirkenden Straferlass unter Umständen nicht einmal erahnen lässt".
Unverantwortliche Freilassungen
Gewarnt haben die Länder zudem auch vor einer Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen, die mit der geplanten Regelung verbunden wären. So drohe in den laufenden Strafvollstreckungsverfahren, in denen eine Neufestsetzung der Sanktion erforderlich werde, nicht nur bei schwersten Straftaten eine Unterbrechung der laufenden Haft ungeachtet etwaiger Fluchtrisiken.
Auch käme es in bestimmten Fällen zu einer Unterbrechung von Maßregelvollstreckungen etwa in psychiatrischen Krankenhäusern oder in Entziehungsanstalten – ungeachtet der davon ausgehenden Gefahren und der naheliegenden Beeinträchtigungen der Therapie- und Resozialisierungsziele. Im Übrigen, so der Bundesrat, sei mit einer "Flut von Neufestsetzungsverfahren" zu rechnen, die sowohl bei den Strafvollstreckungsbehörden als auch den Gerichten zu erheblichen Mehrbelastungen und Verfahrensverzögerungen führen dürften.
Hundertausende Verfahren betroffen
Wird das CanG an dieser Stelle nicht verändert, ist die zu erwartende Arbeitsbelastung für die Strafjustiz enorm: Die aktuelle Vorsitzende der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister, die niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann (SPD), hat die Zahl der von der Länderjustiz händisch zu überprüfenden Akten kürzlich mit "Hunderttausende" angegeben. Die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2022 verzeichnet rund 175.000 konsumnahe Delikte im Bereich Cannabis. Bei größeren Anklagebehörden in Nordrhein-Westfalen liegen die bereits im Vorgriff auf das Gesetz vorzufilternden Akten im hohen vier- bis fünfstelligen Bereich.
Medienberichten zufolge haben die Münchner Staatsanwaltschaften "bereits jetzt mehrere tausend Verfahren“ auf etwaige Haftentlassungen durchleuchtet. Niedersachsen vermeldet über 16.000 betroffene Verfahren. Und Baden-Württembergs Justizministerin Marion Gentges erklärte gegenüber LTO, dass ihr Land bereits jetzt rund 19.000 Verfahren zur Prüfung an die Strafvollstreckungsbehörden übermittelt habe. Nahezu unisono mahnen die Justizministerinnen und -minister Länder deshalb dringend Änderungen an der der vorgesehenen Regelung an.
Welche Alternativen bleiben?
In Betracht kommen insoweit zwei Vorschläge. Der weitgehendste kommt vom Bundesrat. Dieser regt an, die Vollstreckung von vor dem Inkrafttreten des CanG verhängten Strafen "unberührt“ zu lassen, sie also weiterhin durch- bzw. fortzuführen. Er hat dies – aus meiner Sicht überzeugend – damit begründet, dass ein rückwirkender Erlass der Strafen sachlich nicht geboten sei, da die mit dem CanG einhergehende Entkriminalisierung bewusst Teil eines erst in die Zukunft gerichteten Gesamtpakets (Aufklärung und Prävention etc.) sein solle.
Hinzu kommt, dass die Aufhebung bereits rechtskräftiger Strafurteile in einem Rechtsstaat besonderer Rechtfertigung bedarf und nur sehr behutsam Anwendung finden sollte. Im Falle der Cannabis-Legalisierung erscheint dieser Weg nicht angezeigt. Jedenfalls besteht kein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die derzeit noch unter Strafe gestellten Formen des Umgangs mit Cannabis keinesfalls strafwürdig sind und die Bestrafung solcher Taten ein unbedingt zu beseitigendes Unrecht darstellen. Das belegt bereits die anhaltende politische Kontroverse darüber, ob die bevorstehende (Teil-)Legalisierung überhaupt ein sinnvoller Weg ist.
Eine weitere Möglichkeit, die Justiz von einer zeitnahen Überlastung zu verschonen, wäre, die Verpflichtung zum rückwirkenden Erlass der Strafen jedenfalls nicht bereits zum Inkrafttreten des Gesetzes am 01.04.2024 anzuordnen. Es könnte stattdessen eine – zeitlich großzügige - Übergangsregelung vorgesehen werden, die es der Justiz der Länder ermöglicht, den Straferlass und die Neufestsetzung von Strafen mit der erforderlichen Sorgfalt umzusetzen. Auch wäre zu überlegen, den Straferlass an einen Antrag des Verurteilten zu knüpfen – schon um zu verhindern, dass Verfahren angesichts der Flut zu überprüfenden Akten übersehen werden.
Späteres Inkrafttreten oder Vermittlungsausschuss?
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates mit der Fragestellung bedauerlicherweise nicht im Detail befasst, sondern lediglich pauschal ausgeführt, dass die Vollstreckung von Freiheitsstrafen einen besonders schweren Eingriff in die Grundrechte einer Person darstelle, der durch besondere Umstände gerechtfertigt sein müsse, die nach der Entkriminalisierung durch das CanG nicht mehr vorlägen. Allerdings hat die Bundesregierung zugleich versprochen, sie werde "prüfen, ob ein verzögertes Inkrafttreten der Regelung in Betracht komme, um den Vollzugsaufwand in den Ländern zu begrenzen" (BT-Ds. 20/8763).
Das Ergebnis dieser Prüfung ist bislang nicht durchgedrungen. Die Ankündigung der Ampel-Fraktionsvizes, das Gesetz werde am 1. April in Kraft treten, spricht jedoch nicht dafür, dass man gewillt ist, den Sorgen der Justiz entgegenzukommen. Sollte an dieser Stelle keine Nachbesserung im Gesetz am Ende erfolgen, bliebe dem Bundesrat als letzte Möglichkeit, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Eine Option, die im Übrigen angesichts der parteiübergreifenden Kritik in den Ländern zunehmend realistischer wird.
Fazit: Die Frage einer "Amnestie" eignet sich nicht zur Fortsetzung ideologischer Grabenkämpfe. Festzustellen ist zunächst sorgfältig, ob es tatsächlich geboten ist, rechtskräftige Urteile aufzuheben. Dies allein von gegenwärtigen politischen Mehrheiten abhängig zu machen, erscheint als Einfallstor für eine (weitere) Politisierung des Strafrechts. Soll gleichwohl an dem rückwirkenden Straferlass festgehalten werden, muss eine Lösung gefunden werden, die praxistauglich ist, keine Strafbarkeitsrisiken für die Strafjustiz birgt sowie eine weitere Überlastung der Strafjustiz verhindert. Ein paar Wochen Zeit bleiben noch.
Tim Engel ist Oberstaatsanwalt als Hauptabteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft Köln. Der Beitrag gibt seine persönliche Auffassung wieder.
Rückwirkender Straferlass bereitet Sorgen: . In: Legal Tribune Online, 15.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53880 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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