Das EZB-Urteil des BVerfG hat Europa erbeben lassen. Wie bringt man Karlsruhe und den EuGH nun wieder in den Dialog? Jedenfalls nicht mit einem neuen EU-Schiedsrichter, wie ihn Brüssel im Sinn hat, sagt Prof. Dr. Franz C. Mayer.
LTO: Herr Professor Mayer, mit dem EZB-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) juristische Grundfragen in Europa eskaliert und regelrecht eine Schockwelle ausgelöst. Um den Streit zu schlichten, hat der Fraktionschef der Christdemokraten im EU-Parlament, Manfred Weber, nun einen europäischen Kompetenzgerichtshof als Schiedsrichter vorgeschlagen. Eine gute Idee?
Prof. Dr. Franz C. Mayer: Nein. Europa braucht derzeit keine Debatte um neue Institutionen. Das aktuelle Problem liegt in Karlsruhe, nicht in Luxemburg, Brüssel oder Frankfurt.
Die anderen Mitgliedstaaten dürften das übrigens ganz ähnlich sehen. Und ohne dass alle Mitgliedstaaten seine Einrichtung für zwingend nötig halten, wird es auch keinen Kompetenzgerichtshof geben.
Was muss man sich darunter eigentlich genau vorstellen?
Es geht um eine Instanz, die in Mehrebenensystemen Kompetenzstreitigkeiten verbindlich klären soll. Das kann rechtlich, zum Beispiel als Gericht, ausgestaltet sein. Oder politisch, zum Beispiel in der Form eines Kompetenzausschusses. Es gab da schon viele Ideen. Auch eine Vorabkontrolle der EU-Gesetzgebung durch einen Kompetenzkontrolleur ist schon vorgeschlagen worden. Die sollte prüfen, ob die EU-Gesetzgebung sich innerhalb ihrer Kompetenzen bewegt.
Aber so oder so stellen sich sofort schwierige Detailfragen: Wer soll da eigentlich prüfen dürfen? Nur Verfassungsrichter aus den Mitgliedstaaten? Manche Länder wie die Niederlande haben gar kein Verfassungsgericht - und dann? Und: Ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) selbst auch dabei? Wenn ja, sollen EU und Mitgliedstaaten jeweils zur Hälfte vertreten sein? Gibt es immer nur einen Richter pro Gericht - oder alle? Ist ein Spruchkörper mit 27, 28 oder mehr Mitgliedern überhaupt arbeitsfähig?
Sie sehen: Das ist eine ganz schön komplizierte Geschichte.
Das klingt nach vielen theoretischen Fragen. Gibt es vielleicht reale Vorbilder für so ein Kompetenzgericht?
Mir fällt der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich zur Zeit der Weimarer Republik ein. Der war für Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Reich und den Ländern zuständig. In Belgien gab es eine als Kompetenzgericht angelegte Courd'Arbitrage, auf Deutsch"Schiedsgerichtshof". Der mutierte aber von einem Kompetenzgericht mehr und mehr hin zu einem vollausgewachsenen Verfassungsgericht und heißt heute auch so. Diese Verwandlung macht auch das Problem deutlich, wenn man so ein Kompetenzgericht vorschlägt: Letztlich kann man jede verfassungsrechtliche Frage auch als Kompetenzfrage stellen. Übrigens: Auch EuGH und BVerfG sind als Kompetenzgerichte vorgesehen.
Wann wird denn nun das letzte Wort eines europäischen Kompetenzgerichts auch wirklich zum letzten Wort?
Eben, Sie sagen es: Auch ein Kompetenzgericht würde nicht sicher endgültig entscheiden. Denn genauso wie das BVerfG nun den Vorwurf gegen den EuGH erhoben hat, Grenzen überschritten zu haben, so könnte doch auch jeder Mitgliedstaat die Entscheidung eines EU-Kompetenzgerichtshofs in Frage stellen. Immer mit dem Vorwurf, der EU-Kompetenzgerichtshof habe die Kompetenzordnung falsch ausgelegt.
Gibt es aus diesem Teufelskreis ein juristisches Entkommen?
Nein, ich fürchte nicht. Die Frage nach dem letzten Wort kann immer überlagert werden durch die Frage, wer eigentlich kontrolliert, wer das letzte Wort hat. Es ist die bekannte Frage nach der Kompetenz-Kompetenz. Und die nach der Kompetenz-Kompetenz-Kompetenz - und so weiter. Das zeigt die Grenzen einer rein formalen rechtlichen Argumentation auf.
Wenn Gerichte jeweils aus dem eigenem Rechtssystem heraus schlüssig Kompetenzen anzweifeln, dann lässt sich das nicht abschließend juristisch klären. Es stehen sich "Grenzorgane" gegenüber, wie das mal treffend bezeichnet worden ist. Dann bleibt die Letztentscheidung am Ende nur noch eine politische beziehungsweise Machtfrage. In der Verfassungsgeschichte der USA findet sich dafür ein Beispiel: Da wurde ein solcher Gerichtskonflikt erst durch den Bürgerkrieg, also gewaltsam, entschieden.
Ein solcher droht uns nach dem EZB-Urteil in Europa hoffentlich nicht. Die EU-Kommission betont den "Vorrang des Europarechts vor nationalem Recht", sie prüft derzeit ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Ist das auch ein Gesprächsangebot?
Ich sehe das als Chance. Ziel muss es sein, den offenen Konflikt zwischen den Gerichten um jeden Preis zu vermeiden. Das Vertragsverletzungsverfahren eröffnet der EU und Deutschland auch die Gelegenheit, sich noch einmal über die rechtlichen Parameter zu verständigen. Im Kern geht es aus meiner Sicht dabei übrigens nicht um eine echte Vorrangfrage, also dazu, was im Kollisionsfall Vorrang hat: europäisches Recht oder deutsches Verfassungsrecht? Sondern es geht um die vorgelagerte Frage nach der Reichweite der an die EU übertragenen Kompetenzen.
An sich hatte das BVerfG mit seinem Honeywell-Urteil 2010 dazu ja eine an sich moderatere Linie in Sachen Kompetenzkontrolle, das ist diese "Ultra-vires-Kontrolle" ja letztlich, eingeschlagen. Denkbar ist doch, dass der EuGH nun in einem Vertragsverletzungsverfahren seinerseits, darauf bezogen, eine eigene Konzeption von Ultra-vires-Vorbehalt entwickelt, den er den Mitgliedstaaten zugesteht. Der EuGH könnte ja auch Vorsorge für eine ungewisse Zukunft treffen wollen. Wer weiß, wie der EuGH im Jahre 2050 aussieht. Ich sehe da ein Beispiel in der Geschichte um die "acte clair"-Doktrin des französischen Conseil d'Etat. Der hatte damals die Frage zu klären, ob man sich auf EU-Richtlinien direkt berufen kann. Da hat seinerzeit der EuGH ja auch im CILFIT-Urteil mit einer eigenen "acte clair"-Konzeption geantwortet. Ein Gespräch zwischen den Gerichten, wenn man so will.
Auf welchem Weg kann man die aktuelle Eskalation denn nun am besten auflösen?
Das BVerfG hat versucht, eine Schwebelage aufzulösen, die uns eigentlich lange Zeit gute Dienste geleistet hat. Damit meine ich, eine juristische Schwebelage, die berücksichtigt, dass die EU kein Bundesstaat, aber auch keine internationale Organisation ist. Wir müssen zurück in diese rechtliche Schwebelage, das heißt konkret: miteinander reden, Verfahren, Diskurs.
Eine rechtliche Schwebelage, die man sich herbeiwünscht - das klingt für den Juristen naturgemäß erst einmal ungewohnt.
Ja, für deutsche Juristen mag das unbehaglich sein. Sie sind es gewohnt, dass es immer irgendwo einen Schlusspunkt gibt, einer das letzte Wort hat. Das ist im Völkerrecht und eben auch im Europäischen Verfassungsrecht aber ganz anders. Und das müssen wir aushalten. Die Schwebelage hat eine stabilisierende Wirkung. Das ist so ein bisschen wie im Kalten Krieg: Solange es ein Machtgleichgewicht oder ein gleichwertiges Drohpotential gibt, kann das auch konstruktive, stabilisierende Effekte haben. Sobald einer - bildlich gesprochen - die Bombe zündet, ist dieser Effekt weg. Genau das muss man dem BVerfG nun vorwerfen.
Ich glaube aber nicht, dass das das letzte Wort dazu aus Karlsruhe war, also wie das BVerfG mit dem EuGH umgehen will. Das kann es nicht gewesen sein. Sonst verlieren beide. Dann geht wieder Macht vor Recht, das wäre dann keine Rechtsgemeinschaft mehr.
Prof. Dr. Franz C. Mayer ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik an der Universität Bielefeld. Er hat zum Thema Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung promoviert.
Rechtsprofessor Mayer im Interview zu BVerfG und EuGH: . In: Legal Tribune Online, 27.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41742 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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