BGH-Präsidentin Limperg warnt vor dem Ende der funktionierenden Justiz an ihrem Gericht. Der Gesetzgeber müsse dringend die Streitwertgrenze neu regeln. Im April soll die Übertragung von Urteilen starten, berichtet Martin W. Huff.
Der Bundesgerichtshof (BGH) sieht seine Aufgabe in Gefahr, zügig für Rechtsschutz sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen zu sorgen. Bei dem jährlichen Pressegespräch in Karlsruhe hat die Präsidentin Bettina Limperg mit deutlichen Worten davor gewarnt, dass ab der zweiten Jahreshälfte 2018 der BGH dieser Aufgabe nicht mehr nachkommen könne. "Der BGH kann sich verabschieden", sagte die Präsidentin und weiter: "Das Verhalten der Politik führt zur Rechtsverweigerung statt zu Rechtsschutz".
Hintergrund dieser Sorge ist eine Regelung im Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung (EG ZPO). Danach ist, wenn das Berufungsgericht sie nicht zugelassen hat, eine Revision in Zivilsachen zum BGH nur dann möglich, wenn der Wert der Revisionsangelegenheit 20.000 Euro übersteigt*. Diese Regelung ist allerdings bis zum 30. Juni 2018 befristet. Handelt der Gesetzgeber nicht, dann rechnet der BGH mit einer Flut von Revisionen, die nicht mehr zu bewältigen sei. Nach Schätzungen auch aus der Anwaltschaft könnten dann statt der jährlich knapp 5.000 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden über 10.000 zusätzliche Verfahren beim BGH eingehen. Damit werde die Hauptaufgabe des Gerichts, nämlich für Rechtsschutz bei schwierigen und wichtigen Fragen zu sorgen, unterlaufen.
Verfahrenslaufzeiten von sechs bis acht Jahren, wie sie etwa in Frankreich und Italien üblich seien, wären dann auch in Karlsruhe möglich, warnte Limperg. Sie verwies darauf, dass sich Frankreich derzeit sehr genau die deutschen Regelungen ansehe, um sie eventuell für den Kassationsgerichtshof zu übernehmen, damit dieser wieder effektiv arbeiten könne.
"Die Politik lässt den BGH vor die Wand fahren", so ist am Rande des Pressegesprächs zu hören. So ist zu hören, von Seiten der SPD werde die Auffassung vertreten, dass die Wertgrenze von 20.000 Euro Verbraucherverfahren verhindere. Dem steht entgegen, dass über 60 Prozent der Revisionsverfahren Werte unter 20.000 Euro betreffen, so gerade die klassischen Verbraucherschutzthemen wie Bankgebühren oder allgemeine Geschäftsbedingungen. Durch die Möglichkeit der Instanzgerichte, die Revision zum BGH zuzulassen, die sowohl die Landgerichte als letzte Instanz wie auch die Oberlandesgerichte haben, sei der Rechtsschutz gewährleistet, so übereinstimmend die Zivilrichter des BGH.
Von Seiten der Union scheint es eher politische Überlegungen verknüpft mit personellen Anforderungen an den BGH zu geben, die dazu führen, dass die Verlängerung der Übergangsregelung in der EG ZPO nicht auf den Weg gebracht wird. Limperg forderte den Gesetzgeber auf, gerade in Zivilsachen unverzüglich gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen. Sie will diesen Punkt in ihrem ersten Gespräch an diesem Donnerstag mit der neuen Justizministerin Katarina Barley deutlich ansprechen.
Überlastung des Staatsschutzsenats
Mit großer Sorge betrachtet der BGH auch die zunehmende Belastung durch Staatsschutzsachen, für die der 3. Strafsenat zuständig ist. "Wir haben eine Flutwelle der Ermittlungsverfahren", sagte der Vorsitzende des Senats, Jörg-Peter Becker. Die Zahl der Revisionen in seinem Senat habe sich seit 2015 nahezu verfünffacht. Zudem verzeichneten die Haftprüfungsverfahren, für die der Senat in Staatsschutzsachen ebenfalls zuständig ist, eine Steigerung von nahezu 60 Prozent. Waren es im Jahr 2014 noch 35 Haftprüfungen, so waren es 2017 schon 79 Verfahren, die zum Teil in Bezug auf die Frage des dringenden Tatverdacht und der Prüfung der Haftgründe sehr aufwändig seien, so Becker weiter.
Zwar gebe der Generalbundesanwalt zunehmend Staatsschutzverfahren mit minderer Bedeutung an die Staatsanwaltschaften der Länder zurück. Die Haftprüfung bleibe aber auch in diesen Fällen beim BGH. Hier wäre zu überlegen, ob es nicht sinnvoller wäre, diese Verfahren direkt bei den Generalsstaatsanwaltschaften der Länder zu belassen. Auch die Haftprüfung könne auf die für Staatsschutzsachen in erster Instanz zuständigen Oberlandesgerichte übertragen werden. "Es erscheint mir wenig sinnvoll, dass der Revisionsrichter schon die Haftprüfung vornimmt, wenn er später letztinstanzlich mit dem Fall befasst ist", sagte Becker gegenüber LTO. Möglich wäre dies durch eine einfache Änderung im § 121 der Strafprozessordnung.
Der Schwerpunkt der islamistischen Verfahren liege eindeutig bei dem Terror in Syrien, wobei hier Flüchtlinge sowohl Täter als auch Opfer sein. Oftmals sei zwar die Beweislage relativ gut, weil die Täter zum Teil ihre Taten gut dokumentierten. Es müssten aber schon in der Haftprüfung umfangreiche Ermittlungen vorgenommen werden. Juristisch schwierig würden diese Verfahren inzwischen, weil zunehmend Fragen des Völkerstrafgesetzbuches mit geprüft werden müssten. Dies dann, wenn auch Kriegsverbrechen neben terroristischen Straftaten in Betracht kämen. Dies alles mache die Staatsschutzverfahren nicht einfacher. Es sei aber Aufgabe der deutschen Gerichtsbarkeit, diese Verfahren intensiv zu prüfen, aber rasch zu entscheiden.
Medientraining für die Richter
Wie die Entscheidungen ausgehen, kann ab dem 19. April 2018 teilweise live verfolgt werden. Dann tritt die Neuregelung des § 169 GVG in Kraft, mit der die "Liveübertragung" von Urteilsverkündungen des BGH möglich wird. Die Entscheidung darüber trifft der jeweilige Senatsvorsitzende. Das Gericht sei intensiv dabei, die technischen und baulichen Vorkehrungen dafür zu treffen, dass eine solche Übertragung von Bildern möglich wird, sagte Gerichtspräsidentin Limperg. Sie stand den Kameras im Gericht durchaus kritisch gegenüber.
Zudem habe bereits ein intensives Medientraining der Vorsitzenden Richter stattgefunden. "Ich konnte eine große Offenheit der Vorsitzenden der 17 Senate feststellen, das neue Gesetz auch zu nutzen", fasste sie die bisherigen Erfahrungen zusammen.
Eine Übertragung könnte bereits direkt am 19. April erstmalig stattfinden. Für den Tag hat der I. Zivilsenat des BGH die Verkündung in einer Wettbewerbsangelegenheit geplant. Es müssten jetzt Erfahrungen gesammelt werden, wie das Gesetz umgesetzt werden könne. Unklar ist allen Beteiligten – auch den anwesenden Medien, ob überhaupt eine gesamte Urteilsverkündung übertragen oder ob nur kurze Zitate wiedergegeben würden. Alle müssen erst einmal sehen, wie sie mit den neuen Möglichkeiten umgehen.
Der Autor Martin W. Huff ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Legerlotz Laschet in Köln und Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln.
*Geändert am 16.03., 10:27 Uhr, d. Red.
Martin W. Huff, Jahrespressegespräch am BGH: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27537 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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