Müssen rechtskräftig freigesprochene Mordverdächtige ein Leben lang damit rechnen, dass ihr Strafverfahren bei neuer Beweislage wieder aufgerollt wird? Über die äußerst umstrittene Wiederaufnahme-Vorschrift verhandelte das BVerfG am Mittwoch.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am Mittwoch über die umstrittene Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten des Freigesprochenen im Mordfall Frederike von Möhlmann verhandelt. Der heute über 60-jährige Ismet H. war im Jahr 1983 rechtskräftig von dem Vorwurf freigesprochen worden, die 17-jährige Frederike von Möhlmann vergewaltigt und getötet zu haben. Das Verfahren wurde jedoch 2021 wegen neuer Beweismittel auf Grundlage einer von der damaligen GroKo-Regierung in die Strafprozessordnung (StPO) neu eingeführten Vorschrift wieder aufgenommen, den gegen den Mann erlassenen Haftbefehl hatte das BVerfG unter Bedingungen außer Vollzug gesetzt (Beschl. v. 20.12.2022, Az. 2 BvR 900/22).
Nach § 362 Nr. 5 StPO, der erst im Dezember 2021 in Kraft getreten ist, darf ein Strafverfahren gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder neuer Beweismittel dringende Gründe gegeben sind, die möglich machen könnten, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes (oder bestimmter völkerrechtlicher Straftaten wie z.B. Kriegsverbrechen) verurteilt wird. Bislang konnte ein Strafverfahren zum Nachteil des Verurteilten nach § 362 StPO nur in besonderen Härtefällen wieder aufgenommen werden - nämlich dann, wenn sich etwa herausstellt, dass eine zugunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde gefälscht war oder der Freigesprochene selbst später noch ein Geständnis über seine Tat ablegt.
Im Fall des getöteten Mädchens Frederike waren im Jahre 2012 Spermaspuren auf einem Stück Toilettenpapier im Slip der Getöteten gefunden, die H. belasten sollen. Das Verfahren gegen H. wurde deswegen auf Grundlage von § 362 Nr. 5 StPO wieder aufgenommen. Dagegen wandte sich H. mittels Verfassungsbeschwerde, die die Hamburger Kanzlei Schwenn & Kruse für den des Mordes verdächtigten H. eingelegt hatte.
Verstoß gegen Ne-bis-in-idem-Grundsatz und das Rückwirkungsverbot?
Formal richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts Celle (OLG) vom 20. April 2022 (Az. 2 Ws 62/22). Das OLG wiederum hatte die Beschwerde des früheren Angeklagten gegen eine zuvor ergangene Entscheidung des LG Verden, mit der das Wideraufnahmeverfahren gegen ihn eingeleitet und zudem U-Haft verhängt wurde, zurückgewiesen und ausführlich bekräftigt, dass es § 362 Nr. 5 StPO für verfassungskonform hält.
Dagegen wird in der Verfassungsbeschwerde die Auffassung vertreten, dass die neu eingeführte Vorschrift aus diversen Gründen verfassungswidrig sei: Vor allem verstoße die neue Vorschrift gegen den in Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verbrieften Grundsatz "ne bis in idem" ("nicht zweimal in derselben Sache"). Dieser verbiete kategorisch nicht nur eine doppelte Bestrafung in der gleichen Sache, sondern auch – im Falle eines vorangegangen rechtskräftigen Freispruchs – eine erneute Strafverfolgung.
Vertreten wird diese Ansicht von einer Reihe von Verfassungsrechtlern, Strafrechtlerinnen und Anwaltsverbänden. Der Beschwerdeführer rügt außerdem, dass die Wiederaufnahme gegen das Verbot der rückwirkenden Anwendung von Gesetzen verstoße. Vor dem Hintergrund dieser verfassungsrechtlichen Gemengelage hatte auch der Bundespräsident im Dezember 2021 das Gesetz nur mit erheblichen Bauchschmerzen unterzeichnet.
Andere Juristen hingegen halten die Vorschrift wegen ihres Ausnahmecharakters für verfassungskonform. Sie hatten – wie auch das OLG Celle – darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber nur für Fälle denkbar schwerster Straftaten eine eng umrissene Ausnahmekonstellation geschaffen habe, der unter dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit eine herausragende Bedeutung zukomme und die sich im Rahmen einer vom BVerfG dem Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumten Möglichkeit der Weiterentwicklung des Art. 103 Abs. 3 GG bewege.
BVerfG-Vize: "Grundlegende verfassungsrechtliche Fragen"
In der mündlichen Verhandlung führten am Mittwoch beide Seiten für Ihre Position gewichtige Argumente ins Feld: Vor den Richterinnen und Richtern des Zweiten Senats duellierten sich die Strafrechtler auf höchstem Niveau, nachdem die Vizepräsidentin des BVerfG, Prof. Dr. Doris König, zuvor klargestellt hatte, worum es geht: Um "grundlegende verfassungsrechtliche Fragen", deren Klärung für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit erforderlich sei. Es gehe nicht, so König, um die Frage, ob H. nun die ihm erneut zur Last gelegte Tat begangen hat.
Grundlegend wurde es dann auch – vor allem im Hinblick auf das Verständnis und die Reichweite von Art. 103 Abs. 3 GG. Handelt es sich überhaupt um ein abwägungsfähiges Grundrecht, in das, wie der Gesetzgeber formulierte, "zur Widerherstellung materieller Gerechtigkeit" eingegriffen werden dürfe?
Pro: "Funktionstüchtige Strafrechtspflege"
Ganz klar bejaht wurde diese Frage von den Strafrechtlern, die das GroKo-Gesetz am Mittwoch in Karlsruhe verteidigten. So verwies Hochschullehrer Prof. Dr. Michael Kubiciel, von der Union als Bevollmächtigter benannt, auf einen unterschiedlichen Schutzgehalt in Art. 103 Abs. 3 GG. Das Verbot der Doppelbestrafung betreffe den Kernbereich des Grundrechtes, während das Verbot mehrfacher Verfolgung nur einen Randbereich betreffe.
In letzteren habe der Gesetzgeber mit § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform eingegriffen. Die Erweiterung der Vorschrift diene einem legitimen Zweck: So könne der Staat eine funktionstüchtige Strafrechtspflege nur gewährleisten, wenn einem Tatverdacht auch in einem ausreichenden Maße nachgegangen werde. Zudem gelte § 362 Nr. 5 StPO nur für "exzeptionell schwere Taten".
Die Prozessvertreterin der SPD-Bundestagsfraktion, Prof. Dr. Elisa Hoven, verwies ebenfalls auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift: Eine routinemäßige Überprüfung von rechtskräftigen Freisprüchen sei ausgeschlossen. Hoven betonte auch einen Anspruch des Opfers bzw. naher Angehöriger, dass das Verfahren unter bestimmten Bedingungen wieder aufgerollt wird. Sie hätten einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung.
Auch Strafrechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Tatjana Hörnle vom Freiburger Max-Planck-Institut zeigte Sympathien für die neue Vorschrift. Hörnle sprach sich für eine dogmatische "Neuorientierung" aus: Statt jeden Eingriff in Art. 103 Abs. 3 GG unter Verweis auf dessen Abwägungs- und Änderungsfestigkeit abzubügeln, müsse man auch hier zur "normalen Verhältnismäßigkeitsprüfung" gelangen. Diese führe dann ohnehin dazu, dass sich Eingriffe in Art. 103 Abs. 3 GG häufig als verfassungswidrig erwiesen.
Contra: "Freispruch unter Vorbehalt"
Dieser Sichtweise widersprachen indes entschieden nicht nur die Prozessvertreter von H., die Anwälte Johann Schwenn, Leon Kruse und Dr. Yves Georg, sondern auch andere Strafrechtler. Schwenn stellte in seinem Statement klar: "Von der Rechtskraft eines Freispruchs bleibt mit der Neuregelung kaum noch etwas übrig." Dass der Gesetzgeber hohe Hürden in die Neuregelung eingebaut hätte, verneinte Schwenn: "Dringende Gründe" ließen sich schnell konstruieren.
Der Augsburger Strafrechtslehrer Prof. Dr. Johannes Kaspar sprach von einem "Freispruch unter Vorbehalt". Die Vorschrift treffe auch Unschuldige und verstoße somit gegen die Unschuldsvermutung, so Kaspar. Er widersprach zudem Hörnle, dass bei Eingriffen in Art. 103 Abs. 3 GG die Verhältnismäßigkeitsprüfung letztlich ein geeignetes verfassungsrechtliches Korrektiv darstelle: "Es geht um schwere Straftaten. Unter Verweis darauf lässt sich jedes rechtliche Verbot sturmreif schießen."
Strafrechtler Prof. Dr. Erol Pohlreich, Prozessbevollmächtigter für die BT-Fraktionen der Grünen und der FDP, warnte vor einem Prozess "ad infinitum": Selbst ein erneuter Freispruch schaffe für den Betroffenen keine Ruhe. Schließlich ließe sich die Vorschrift bei Vorliegen vermeintlich gewichtiger neuer Beweise in ein und demselben Fall immer wieder anwenden, so Pohlreich. Auch Anwalt Stefan Conen vom Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen kritisierte, die Vorschrift widerspreche der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG. Dieses habe in einer früheren Entscheidung klargestellt, dass das in Art. 103 Abs. 3 GG geltende Verbot auch unter Inkaufnahme eines Fehlurteils Geltung beanspruchen müsse.
Ähnliche Regelung im NS-Prozessrecht
Zudem verwies Conen auf eine dunkle Vorgeschichte des § 362 Nr. 5 StPO: Die Möglichkeit, rechtskräftige Freisprüche aufgrund nachträglich bekanntgewordener Beweise wieder aufzuheben oder Strafen nach Rechtskraft zu verschärfen, habe es im deutschen Strafprozessrecht bisher lediglich in der NS-Zeit gegeben. Die Vorschrift sei nach der Diktatur unverzüglich wieder abgeschafft worden.
Wie es nun mit § 362 Nr. 5 der StPO weitergeht, ist offen. Zu erwarten ist in einigen Monaten jedenfalls ein echtes Grundsatzurteil des BVerfG zur verfassungsrechtlichen Reichweite von Art. 103 Abs. 3 GG.
Das Gericht könnte den Schutzbereich des Grundrechts besonders weit ziehen bzw. die neue Wiederaufnahme-Vorschrift als unverhältnismäßigen Eingriff bewerten. Möglich ist aber auch, dass es sich dem Argument der Gesetzesbefürworter annähert, wonach mit § 362 Nr. 5 StPO einer verfassungsrechtlich gebotenen "materiellen Gerechtigkeit" Vorschub geleistet wird.
BVerfG prüft umstrittene Wiederaufnahme-Vorschrift: . In: Legal Tribune Online, 24.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51848 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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