Trotz Freispruchs soll Mordverdächtigen künftig ein neuer Prozess drohen können, wenn es im Nachhinein neue Beweise gibt. Das hat die GroKo beschlossen, einige Länder wollen das Vorhaben aber nun bremsen.
Wird die umstrittene StPO-Änderung zur Wiederaufnahme von Strafverfahren, die der Bundestag bereits beschlossen hat, vom Bundesrat ausgebremst? LTO liegt ein Antrag aus Thüringen, Sachsen, Berlin und Hamburg vor, der im Vermittlungsausschuss eine grundlegende Überarbeitung des Gesetzes verlangt. Der Antrag der Vier wird nach LTO-Informationen auch von Rheinland-Pfalz und Bremen* unterstützt. Ein weiterer Antrag aus NRW zielt zudem auf eine teilweise Modifikation der Neuregelung ab. Über beide Anträge berät am Mittwoch der Rechtsausschuss des Bundesrates. Am 17.September muss sich ddann ie Länderkammer abschließend zu dem Vorhaben verhalten.
Gegen den Protest von Verfassungsrechtlern, Strafrechtlerinnen, Anwaltsverbänden und sogar den Widerstand aus dem Bundesministerium für Justiz peitschte die Koalition aus Union und SPD eine der umstrittensten Änderungen der Strafprozessordnung (StPO) noch in letzter Minute vor der Sommerpause durch den Bundestag: Das "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ soll in den Fällen Mord und Völkermord eine spätere Wiederaufnahme des Verfahrens auch bei Freispruch des Angeklagten ermöglichen.
Die verfassungsrechtlich hoch problematische Neuregelung in § 362 StPO wurde in der Nacht zum 24. auf den 25.Juni gegen 1.45 Uhr beschlossen. U.a. die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hatte das gesamte Verfahren ungewöhnlich scharf kritisiert: "Die Verbände waren auch bei diesem wichtigen Vorhaben, das zu einem radikalen Paradigmenwechsel im Strafrecht führen würde, erneut nicht eingebunden wurden. Es gab weder eine Verbändeanhörung noch wurde der BRAK der Entwurf überhaupt zugeleitet."
Freispruch künftig nur noch unter Vorbehalt?
Bislang kann ein Strafverfahren zum Nachteil des Verurteilten nach § 362 StPO nur in besonderen Härtefällen wieder aufgenommen werden. Nämlich dann, wenn sich etwa herausstellt, dass eine zugunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde gefälscht war oder der Freigesprochene selbst später noch ein Geständnis über seine Tat ablegt. In solchen Fällen kann dem Freigesprochenen doch noch eine Strafe drohen.
Die Ausnahmen, unter deren Voraussetzungen das zulässig ist, sind aber eng gefasst, denn sie stehen in einem Spannungsverhältnis zu Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz und dem sogenannten Verbot der Doppelbestrafung: Wer bereits einmal freigesprochen worden ist, soll nicht noch einmal wegen der gleichen Tat bestraft werden können.
Nach dem Gesetz von Union und SPD soll künftig noch ein weiterer Grund hinzukommen: Auch wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt, soll das Verfahren nochmal aufgenommen werden können. Beschränkt ist dies auf Fälle von Mord oder einem Tötungsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch, für das mit lebenslanger Freiheitsstrafe gedroht wird.
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) lehnte - wie auch die BRAK - die Gesetzesänderung von Anfang an ab: "Ein derartiges Vorhaben verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG, der nach allgemeiner Auffassung auch die Doppelverfolgung nach einem Freispruch verbietet", so Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht des DAV seinerzeit zu LTO. Im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit habe das Grundgesetz sich eindeutig für die Rechtskraft entschieden.
Länder-Kritik: "Urteil nicht mehr 'Schlusspunkt' des Strafverfahrens"
In dem Antrag der vier Bundesländer, der LTO vorliegt und der am Mittwoch nun im Rechtsausschuss des Bundesrates beraten wird, kritisieren Thüringen, Berlin, Hamburg und Sachsen die Neuregelung als verfassungswidrig.
Verfassungsimmanente Rechtfertigungsgründe, die eine Ausnahme vom verfassungsrechtlichen Doppelbestrafungsverbotes begründen könnten, lägen nicht vor. Das von der GroKo beschlossene Gesetz führe vielmehr dazu, dass der Grundsatz “ne bis in idem” (“nicht zweimal in derselben Sache”) bei den im Gesetz genannten Straftaten "weitestgehend" aufgehoben werde. "Das freisprechende Urteil wird für alle Beteiligten im Falle einer im Raum stehenden Katalogtat immer nur ein vorläufiges Ergebnis und nicht mehr der 'Schlusspunkt' des Strafverfahrens sein”, heißt es im Antrag. Zudem sei die Neuregelung gerade auch für zu Recht rechtskräftig freigesprochene Personen, die bereits einem schweren Vorwurf zu Unrecht ausgesetzt waren, äußerst belastend. Diese könnten "den Rest ihres Lebens nicht ausschließen, erneut wegen derselben Tat vor Gericht stehen zu müssen".
Außerdem warnen die Länder, dass das Gesetz in der aktuellen Fassung bereits für solche Fälle gelten könnte, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung bereits durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren.
Auch Rheinland-Pfalz lehnt StPO-Änderung ab
Unterstützt wird das Anliegen der vier Bundesländer inzwischen auch von Rheinland-Pfalz. Auf LTO-Anfrage bestätigte das der Sprecher des FDP-geführten Landesjustizressorts: "Rheinland-Pfalz wird den Antrag der vier Länder in der morgigen Sitzung unterstützen", sagte er. Auch Minister Herbert Mertin lehne die geplante Neuregelung des Wiederaufnahmeverfahrens ab. "Sie begegnet ganz erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, weswegen es bezeichnenderweise sogar das BMJV abgelehnt hat, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen und das im Bundestag beschlossene Gesetz offenbar auch nicht kommentieren wollte. Es wäre zudem nicht das erste Mal, dass eine Regelung zunächst auf einen kleinen Kreis von Delikten angewandt wird, unter öffentlicher Empörung aber es dann doch zu einer späteren Ausweitung kommt. Gerade bei Sexualdelikten scheint das nicht fernliegend."
In einem weiteren Antrag aus NRW, der LTO ebenfalls vorliegt, lässt das Land zwar die Regelung in der StPO unbeanstandet, kritisiert aber – wie schon Berlin, Hamburg, Sachsen und Thüringen - auch eine weitere Regelung im neuen Gesetz, die für nicht verjährbare Verbrechen die Unverjährbarkeit zivilrechtlicher Ansprüche vorsieht (§ 194 Abs. 2 Nr. 1 BGB-E.):
NRW: "Den Rechtsverkehr vor Verdunkelung der Rechtslage bewahren"
Heißt: Mit dem Tod des möglichen Täters erlischt zwar der staatliche Strafanspruch, nicht aber ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch, der dann nach § 1967 BGB die Erben treffen würde. "Die zivilrechtliche Verjährung ist aus guten Gründen zur Wahrung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit geboten", kritisiert NRW. Der Rechtsverkehr benötige klare Verhältnisse und müsse deshalb vor “einer Verdunkelung der Rechtslage” bewahrt bleiben, wie sie bei späterer Geltendmachung von Rechtsansprüchen auf Grund längst vergangener Tatsachen zu befürchten wären.
Im Antrag der vier Bundesländer wird in diesem Zusammenhang auch auf Wertungswidersprüche hingewiesen: "Es ist im zivilrechtlichen Haftungssystem nicht plausibel zu erklären, weshalb solche finanziellen Ansprüche der mittelbar betroffenen Erben bzw. Angehörigen oder gar der Sozialversicherungsträger nicht verjähren können, während die zivilrechtlichen Ansprüche eines noch lebenden Opfers – etwa einer Vergewaltigung oder einer schweren Körperverletzung – nach 30 Jahren verjähren (§ 197 BGB)."
Sollten die Länder am Ende tatsächlich den Vermittlungsausschuss anrufen, wäre die Änderung erst einmal vom Tisch. Der Bundestag könnte bei dem Einspruchsgesetz zwar die Länderkammer überstimmen, aber vor der Bundestagswahl ist damit nicht mehr zu rechnen.
*Anm.d.Redaktion: Die Ansage der Hansestadt Bremen, den Antrag zu unterstützen, erreichte uns erst nach Veröffentlichung des Artikels und wurde um 16.36 Uhr am Tag d. Erscheinens ergänzt.
Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten: . In: Legal Tribune Online, 31.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45880 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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