Fast drei Monate schon wird im Bundespräsidialamt geprüft, ob das von der GroKo beschlossene Gesetz, wonach rechtskräftig freigesprochenen Mordverdächtigten unter Umständen erneut der Prozess gemacht werden kann, verfassungskonform ist.
Seit Ende September - und damit ungewöhnlich lange - prüft Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, ob das von der alten schwarz-roten Koalition beschlossene und verfassungsrechtlich äußerst umstrittene "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ mit der Verfassung vereinbar ist. Das Gesetz sieht vor, dass bei schwersten Straftaten wie Mord und Völkermord Strafprozesse neu aufgerollt werden können, auch wenn sie seinerzeit mit einem rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen wurden.
Gegen den Protest von Verfassungsrechtlern, Strafrechtlerinnen, Anwaltsverbänden und sogar den Widerstand aus dem Bundesministerium für Justiz hatte die Koalition aus Union und SPD die Änderungen der Strafprozessordnung (StPO) noch in letzter Minute vor der Sommerpause durch den Bundestag gepeitscht: Der Bundesrat billigte sie am 17.Sepember, seither prüft das Bundespräsidialamt. Wie eine Sprecherin des Bundespräsidenten LTO mitteilte, dauere die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit noch an. Es gehe um verfassungsrechtliche Grundsätze. Wann die Prüfung abgeschlossen werde, sei noch nicht absehbar.
Verstoß gegen Art. 103 Abs.3 GG?
Im Wesentlichen dreht sich die verfassungsrechtliche Prüfung im Präsidialamt um Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und das sogenannte Verbot der Doppelbestrafung ("ne bis in idem"): Wer bereits einmal freigesprochen worden ist, soll nicht noch einmal wegen der gleichen Tat bestraft werden können.
Bislang kann ein Strafverfahren zum Nachteil des Verurteilten nach § 362 StPO nur in besonderen Härtefällen wiederaufgenommen werden. Wegen des Spannungsverhältnisses zu Art. 103 Abs. 3 GG sind diese besonders eng gefasst: Wenn sich etwa herausstellt, dass eine zugunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde gefälscht war oder der Freigesprochene selbst später noch ein Geständnis über seine Tat ablegt.
Nach dem umstrittenen Gesetz soll ein neuer Prozess auch dann möglich sein, wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt.
Mit einem offenen Brief hatte sich im Oktober die Initiative "#nichtzweimal", zu der u.a. auch die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zählt, an Frank Walter Steinmeier gewandt und appelliert, das Gesetz nicht auszufertigen, weil es gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoße. Auch ein weiteres Argument fügten die Verfasser:innen dabei an: Die StPO-Änderung betreffe nicht nur das einfache Recht, sondern den Kern des Art. 103 Abs. 3 GG und hätte daher als Verfassungsänderung mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit durchgeführt werden müssen.
Hamburgs Ex-Justizsenator: "Ich würde das Gesetz nicht unterzeichnen"
Im Präsidialamt scheint man die verfassungsrechtlichen Bedenken jedenfalls äußerst ernst zu nehmen: Nur so ist zu erklären, dass das Amt mittlerweile schon seit mehr als zweieinhalb Monaten mit der Prüfung befasst ist. Das bestätigen auch Rechtspolitiker von FDP und Grünen: "Die lange Prüfung durch das Bundespräsidialamt bestärkt die verfassungsrechtlichen Zweifel, die auch die FDP-Fraktion in der letzten Legislaturperiode gegen den Gesetzentwurf erhoben hat", so Konstantin Kuhle, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion.
Der ehemalige Hamburger Justizsenator und künftige Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Till Steffen, findet: "Die noch anhaltende Prüfung durch den Bundespräsidenten ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass auch dort Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesetzes bestehen. Ich würde das Gesetz so nicht unterschreiben. Selbst bei wohlwollender Betrachtung schießt es deutlich über das Ziel hinaus", so Steffen im Gespräch mit LTO.
Ob Steinmeier das Gesetz am Ende nach Art. 82 GG ausfertigt, ist noch offen. Der Spielraum, der dem Präsidenten zur Verfügung steht, ist umfassend: Nach überwiegender verfassungsrechtlicher Auffassung steht ihm nicht nur ein formelles, sondern auch ein materielles Prüfungsrecht zu. Demnach darf er die Ausfertigung eines Gesetzes nicht nur bei einer Verletzung des Gesetzgebungsverfahrens verweigern, sondern auch dann, wenn er das Gesetz aus anderen Gründen für verfassungswidrig hält. Und selbst wenn ihm der Verfassungsverstoß nicht offenkundig und zweifelsfrei erscheint, er aber gleichwohl verfassungsrechtliche Bedenken hat, könnte er die Ausfertigung des Gesetzes ablehnen.
Bekommt die neue Bundesregierung rechtliches Gehör?
Wie geht es nun weiter? Bei fortdauernden verfassungsrechtlichen Zweifeln kann der Bundespräsident auch auf die Bundesregierung zugehen und um eine verfassungsrechtliche Stellungnahme bitten. Verfassungsrechtlich ist diese Einschaltung der Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsorgantreue und unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs geboten. In der Vergangenheit haben die Bundespräsidenten bei komplizierten und verfassungspolitisch wichtigen Fragen außerdem verfassungsrechtliche Gutachten eingeholt. Ob derartige Schritte bereits unternommen wurden, wollte das Präsidialamt weder bestätigen noch dementieren.
Dass Steinmeier von seinem Prüfungsrecht sorgsam Gebrauch macht, hat er in der Vergangenheit schon mehrfach unter Beweis gestellt: Etwa 2017 im Zusammenhang mit einem Gesetzespaket, dass die Finanzbeziehungen von Bund und Ländern neuordnete. Damals fertigte er das Gesetz zwar aus, machte aber zugleich seine verfassungsrechtlichen Einwände geltend. Zuletzt unterzeichnete Steinmeier auch das sog. Hate-Speech Gesetz zunächst nicht, sondern erst Monate später, nachdem die Bundesregierung mit einem Reparaturgesetz auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts reagiert hatte.
FDP und Grüne wollen Gesetz ggf. ändern
Sollte Steinmeier das Gesetz absegnen, erscheint nicht ausgeschlossen, dass es alsbald von der Ampel dennoch wieder geändert wird:
"Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat sich im Koalitionsvertrag darüber verständigt, das Strafrecht systematisch zu überprüfen. Sollte der Bundespräsident das Gesetz unterzeichnen, könnte die neue Regelung ebenfalls Gegenstand einer solchen Überprüfung sein", so FDP-Rechtspolitiker Kuhle.
Ähnlich sieht man es auch bei den Grünen: Sollte der Bundespräsident ausfertigen, werde man sicher über das weitere Vorgehen in der Koalition sprechen, kündigte MdB Steffen an. Seine Fraktionskollegin, Rechtsanwältin Canan Bayram, regt für diesen Fall ebenfalls eine erneute Befassung an:
"Das Gesetz ist auch nicht erforderlich, da es bei Mordanklagen kein strukturelles Vollzugsdefizit gibt. Ne bis in idem stammt aus dem Römischen Recht und ist schon seit 1879 Teil der deutschen Rechtsordnung. Dieser Grundsatz wurde nur im Nationalsozialismus durchbrochen."
Umstrittene StPO-Reform: . In: Legal Tribune Online, 09.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46886 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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