Trotz grenzenloser Reisefreiheit im Schengenraum führt die Bundespolizei in deutschen Zügen Grenzkontrollen durch. Bei einer hatte sie Pech: Sie geriet an einen Juristen, der gegen diese Maßnahme schon erfolgreich vor den EuGH gezogen ist.
Die Bundespolizei hätte es besser wissen können. Spätestens, wenn ein Reisender anlässlich einer Passkontrolle im Zug fragt, ob es sich bei dieser "Maßnahme um eine Identitätskontrolle oder eine Grenzkontrolle handele", sollte man vielleicht einfach weitergehen.
Die Bundespolizei tat dies in diesem Fall nicht. Ein Beamter geriet so bei einer Kontrolle in einem aus Österreich kommend über Passau nach Frankfurt fahrenden Zug an Stefan Salomon. Der ist Lehrbeauftragter am Institut für Völkerrecht der Universität Graz und Gründer sowie Leiter der dortigen Klinik für Flüchtlingsrecht. Und er war bereits Kläger in einem Verfahren zu Grenzkontrollen in Österreich, das es bis zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) schaffte. Das Luxemburger Gericht entschied seinerzeit nach einer ähnlichen Maßnahme, dass Grenzkontrollen nicht ohne Weiteres eingeführt und verlängert werden dürfen (Urt. v. 26.04.2022, Rs. C-368/20).
"Grenzkontrolle im Rahmen des grenzüberschreitenden Verkehrs" war daher die falsche Antwort des Bundespolizisten. Salomon händigte seinen Pass zwar aus, lieferte den Hinweis auf die Rechtswidrigkeit der Maßnahme aber gleich mit. Und bekam nach Vorlage seines Reisedokuments auf seine Bitte hin die Dienstnummer des Beamten.
Auf Kontrolle folgte Klage
Inzwischen liegen in dem Fall die Urteilsgründe des Verwaltungsgerichts (VG) München vor (Urt. v. 31.01.2024, Az. M 23 K 22. 3422). Denn Salomon, vertreten von Dr. Christoph Tometten von der Berliner Kanzlei Möckernkiez, ging gegen die Maßnahme mit der Fortsetzungsfeststellungsklage vor. Gegenüber dem VG regte er auch die Vorlage zum EuGH an – denn die seinerzeit ergangene Entscheidung bezog sich lediglich auf Österreich. Zwar gehen Stimmen davon aus, dass das EuGH-Urteil auf die Rechtslage in Deutschland übertragbar ist – eine Klarstellung steht aber bislang aus.
Salomon unterlag, das VG München wies die Klage mangels Fortsetzungsfeststellungsinteresses als unzulässig ab und sah auch - nicht zuletzt wegen der Möglichkeit von Rechtsmitteln gegen die Entscheidung - von einer Vorlage an den EuGH ab.
Dies jedoch nicht ohne ein umfangreiches obiter dictum zu verfassen: Danach geht die 23. Kammer unter Hinweis auf die EuGH-Rechtsprechung davon aus, dass diese Grenzkontrolle bei Salomon gegen Art. 25 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex (SGK) verstoßen haben dürfte.
Der EuGH war "unmissverständlich"
Die Norm sieht für die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen einen Gesamtzeitraum von höchstens sechs Monaten vor. Dieser maximale Zeitraum sei zwingend, teilte das VG mit. Eine Überschreitung führe daher "zwangsläufig" dazu, dass alle danach wieder eingeführten Kontrollen an den Binnengrenzen mit dem SGK unvereinbar sind. "Dies hat der EuGH unmissverständlich festgestellt", so das VG München in seinem Urteil.
Die in diesem Verfahren gegenständliche Grenzkontrolle im Juni 2022 sei auf der Grundlage des Notifizierungsschreibens des Bundesinnenministeriums erfolgt, welche die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen an der österreichisch-deutschen Landgrenze aus migrations- und damit einhergehend sicherheitspolitischen Gründen mit Wirkung zum 12. Mai 2022 für einen 6-monatigen Zeitraum auf der Grundlage der Art. 25 bis 27 des SGK "neu anordnete". Das vorangegangene Notifizierungsschreiben des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 15. Oktober 2021 hatte aus denselben Gründen die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen angeordnet.
Für das VG München steht fest: "Allein hieraus ergibt sich, dass damit und trotz der Formulierung der 'Neu'- Anordnung der Gesamtzeitraum von sechs Monaten bereits ausgeschöpft war". Und es ergänzte, dass sich abgesehen davon alle Schreiben des Ministeriums nicht – wie es für die Anordnung erforderlich wäre – auf eine neue Bedrohungslagen gestützt hätten. Die Situation habe sich beim Migrationsgeschehen nur in Randerscheinungen von der ursprünglichen Lage unterschieden. Die Kammer fasste zusammen: "Das Gericht teilt daher insoweit im Kern die klägerische Argumentation."
Kontrollen finden weiter statt
Klägervertreter Christoph Tometten teilt gegenüber LTO mit: "Endlich hat ein deutsches Gericht das Offenkundige festgestellt: Die Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenzen sind rechtswidrig."
Zur aktuellen Lage legt er dar: Seit dem Jahr 2015 seien die Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze immer wieder verlängert worden, dies mit der im Wesentlichen gleichen Begründung, wenn auch mit leicht abweichenden Formulierungen. Es gehe im Kern immer um die Verhinderung irregulärer Migration. Nur während der Pandemie sei zudem das Argument Gesundheitsschutz angeführt worden. Die Sach- und Rechtslage sei daher gleichgeblieben. "Faktisch werden (nur) Stichprobenkontrollen durchgeführt, allerdings an bestimmten Grenzübergängen mit großer Regelmäßigkeit, insbesondere auf der Bahnstrecke nach Passau", so Tometten.
Völkerrechtler und Zugreisender Salomon hat gegen die Entscheidung des VG München Berufung eingelegt.
Spektakuläres Obiter Dictum des VG München: . In: Legal Tribune Online, 30.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54454 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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