Die Eckpunkte für ein neues Wahlrecht stehen. Das Parlament wird von 736 auf 598 Sitze verkleinert, aber nicht jeder Wahlkreisgewinner zieht dann auch in den Bundestag ein. Verfassungsrechtlich final geprüft ist der Vorschlag noch nicht.
Angedeutet hatten die für das Thema Wahlrecht zuständigen Obleute der Ampel-Partner ihre Vorstellungen von einer Reform des Bundestagswahlrechts bereits im Mai – und stießen damit auf heftige Kritik bei der Union. Jetzt liegt eine Beschlussvorlage für ein Eckpunktepapier vor, in dem die Vorschläge konkretisiert werden. Die Vorlage soll am Dienstag in den Fraktionssitzungen von SPD, Grünen und FDP beschlossen werden. Mit Union und der Linken soll dann in der Wahlrechtskommission zu dem Thema weiterverhandelt werden.
Um zu erreichen, dass der mit 736 Abgeordneten aufgeblähte Bundestag auf die ursprünglich vom Gesetzgeber einmal vorgesehene Zahl von 598 Sitzen zurückgefahren wird, soll künftig die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten einer Partei in Höhe des Zweitstimmenergebnisses dieser Partei gedeckelt werden ("Prinzip der Zweitstimmendeckung").
Die aktuelle Größe von 736 Sitzen beruht auf sog. Überhang- und Ausgleichsmandaten. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktkandidatinnen und -kandidaten in den Bundestag entsenden kann, als ihr gemäß der Anzahl der Zweitstimmen in einem Bundesland zustehen. Seit 2013 werden diese Überhangmandate durch zusätzliche Sitze ausgeglichen. Gibt es also künftig mehr direkt Gewählte einer Partei als ihr nach den Zweitstimmen zustehen, sollen nach dem Ampel-Vorschlag die über die Zweitstimmen hinausgehenden Mandate der direkt Gewählten mit dem schwächsten Ergebnis entfallen.
Ersatzstimme für den politischen Konkurrenten?
Ersatzstimme für den politischen Konkurrenten?
In der Beschlussvorlage, die LTO vorliegt, heißt es dazu: "Ein Wahlkreismandat wird dem Kandidaten oder der Kandidatin mit den meisten Erststimmen nur dann zugeteilt, wenn sein oder ihr Mandat durch Zweitstimmen gedeckt ist. Erlangen die Wahlkreiskandidierenden einer Partei in einem Land in mehr Wahlkreisen das beste Erststimmenergebnis als der Partei in dem Land nach der Unterverteilung Sitze zustehen, so sind die Voraussetzungen für ein Wahlkreismandat bei den Kandidierenden mit den relativ schlechtesten Erststimmenergebnissen nicht erfüllt."
Damit der jeweilige Wahlkreis am Ende aber dennoch im Bundestag vertreten ist, sollen die Wähler und Wählerinnen ggf. mit einer dritten Stimme – einer sogenannten Ersatzstimme – einen Direktkandidaten bzw. eine Direktkandidatin einer anderen Partei bestimmen können, der oder die dann zum Zuge kommt.
"Für den Fall, dass ein Wahlkreismandat mangels Zweitstimmendeckung nicht an den oder die Erstplatzierte zugeteilt werden kann, werden die Ersatzstimmen derjenigen Wählerinnen und Wähler, deren Erstpräferenz wegen mangelnder Zweitstimmendeckung des präferierten Kandidaten nicht berücksichtigt werden konnte, zu den Erstpräferenzen der anderen Wähler hinzugezählt," lautet die Formulierung im Eckpunkte-Papier. Das Wahlkreismandat erhalte dann der Kandidat oder die Kandidatin, auf den oder die dann insgesamt die meisten Stimmen (Erstimmen und Ersatzstimmen) im Wahlkreis entfielen – sofern bei ihm oder ihr kein Überhangfall entstehe.
Modell verfassungsrechtlich umstritten
Unter Verfassungsrechtlern ist das Ersatzstimmen-Modell hochumstritten: In einem Gastbeitrag für LTO hatte der Heidelberger Staatsrechtler Professor Dr. Bernd Grzeszick von einem evident verfassungswidrigen Vorschlag gesprochen, wenn der Wähler "ersatzweise" nur für einen der politischen Gegner seines ursprünglichen Kandidaten stimmen könne. "Die Nichtzuteilung des Wahlkreismandats bedarf der Rechtfertigung durch einen zwingenden Grund. Ein solcher wird aber schwer zu finden sein, und liegt jedenfalls nicht im Schutz des Bundestages vor einer konkret drohenden oder erkennbaren Funktionsunfähigkeit, da der Bundestag auch mit mehr als 598 Abgeordneten zumindest funktioniert", so Grzeszick.
Dagegen teilte der Göttinger Staatsrechtler Prof. Dr. Florian Meine derartige verfassungsrechtliche Bedenken in seinem Beitrag für LTO nicht. Erst- und Zweitstimme, so Meine, seien eng miteinander verknüpft: "Wahlkreisbewerber können nur gewählt werden, wenn die hinter ihnen stehende Liste erfolgreich genug ist. Damit ist die politische Doppelrolle des Wahlkreisbewerbers als Person und Parteikandidat recht treffend ausgedrückt.
Weiter schrieb Meine: "Wer Sieger und wer Verlierer ist, ist in einem demokratischen System durch die Wahlregeln bestimmt und nicht Gegenstand einer freien Meinungsbildung über sie. Mit dem gleichen Recht könnte man auch die Wahlkreissieger, die heute ihre Wahlkreise mit bisweilen nur 25 Prozent der Erststimmen gewinnen, als Verlierer bezeichnen, weil drei Viertel gegen sie gestimmt haben."
Ampel räumt ein: Verfassungsrechtlich noch nicht zu Ende geprüft
Beraten wird der Ampel-Vorschlag nunmehr in der Wahlrechtskommission, die aus 13 Bundestagsabgeordneten und 13 externen Fachleuten besteht und die am Donnerstag das letzte Mal vor der Sommerpause tagt.
Vor dieser Sitzung signalisierten die Ampel-Partner der Unions- und Linksfraktion Entgegenkommen: "Wir wollen, dass das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag allgemein anerkannt und akzeptiert wird. Wir wollen daher die CDU/CSU-Fraktion sowie die Linksfraktion in die Ausgestaltung der Reform einbinden und sind gesprächsbereit."
Indes: Dass die SPD, Grüne und FDP die Union von dem Ersatzstimmenmodell überzeugen wird, erscheint zweifelhaft: Ihr Parlamentsgeschäftsführer Thorsten Frei hatte den Vorschlag vor einigen Wochen massiv kritisiert. Die Menschen im Wahlkreis hätten die Erwartung, dass derjenige oder diejenige mit den meisten Stimmen dann tatsächlich auch für sie in den Bundestag einzieht und ihre Interessen dort vertritt." Der Zeitung Die Welt hatte Frei seinerzeit gesagt: "Der Vorschlag der Ampel verstößt sowohl gegen anerkannte Wahlrechtsgrundsätze als auch gegen das Demokratieprinzip."
Dass die Ampel-Obleute ihren Vorschlag verfassungsrechtlich noch nicht zu Ende geprüft haben, deuten sie in ihrem Eckpunktepapier allerdings selbst an: "Wir wollen ein solches Modell als Grundlage der weiteren Verhandlungen weiter auf seine Praktikabilität und Verfassungsmäßigkeit prüfen, weitere Modelle erwägen und unter Berücksichtigung von Verständlichkeit und Akzeptanz eine Vertretung aller Wahlkreise erreichen."
Mit einem ersten Gesetzentwurf für ein neues Bundestagswahlrecht wird für September gerechnet.
Verkleinerung des Bundestages durch Wahlrechtsreform: . In: Legal Tribune Online, 04.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48924 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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