Umstrittenes Video: Warum der Ver­fas­sungs­schutz vor dem "Stolz­monat" warnen durfte

Gastbeitrag von Prof. Dr. Markus Ogorek und Luca Manns

26.07.2024

Mit einem Kurzfilm informierte der Verfassungsschutz in Hannover über ein von Rechtsextremen gekapertes Schlagwort. Der Beitrag stößt auf Kritik – politisch sei das verständlich, rechtlich aber unbegründet, meinen Markus Ogorek und Luca Manns.

Als Videoproduzent ist der Verfassungsschutz bislang nicht bekannt. Niedersachsens Landesbehörde veröffentlichte unlängst aber ein kurzes Video auf der Plattform X, in dem eine betont locker wirkende Mitarbeiterin des Dienstes vor dem Hashtag "Stolzmonat" warnt und immer wieder kleine Einblendungen sowie Toneffekte einspielen lässt. Ursprünglich als Übersetzung von "Pride Month" genutzt, werde der Begriff inzwischen durch Rechtsextremisten umgedeutet und habe mit dieser Lesart im letzten Jahr sogar die X-Trends angeführt, heißt es dort. Ziel der neurechten Kampagne sei es, unter dem Deckmantel patriotischer Gefühle queere Menschen zu diskriminieren sowie Nationalismus und die Ablehnung der liberalen Demokratie zu propagieren. "Damit verfolgen Rechtsextremisten einen metapolitischen Ansatz", resümiert der Verfassungsschutz in seinem Clip.

Hätte nicht der Inlandsnachrichtendienst, sondern beispielsweise die Landeszentrale für politische Bildung den Beitrag gepostet – er wäre wohl nur auf geringes Interesse gestoßen. So rief die Warnung dagegen riesige Resonanz hervor: über eine Million Aufrufe und mehr als zweitausend Kommentare, die überwiegend ablehnend bis beleidigend ausfielen. In einem Bericht der Welt werden zudem juristische Bedenken geäußert. Insbesondere ein Staatsrechtslehrer aus dem betroffenen Bundesland äußert sich sehr kritisch: Die meisten "Stolzmonat"-Postings würden von "normalen Bürgern" stammen, in deren politische Willensbildung der Verfassungsschutz unzulässig eingreife, um sie "in die rechte Ecke" zu stellen. Und weiter: Mit dieser "Einschüchterung" verletze der niedersächsische Inlandsnachrichtendienst die Meinungsfreiheit, für eine Demokratie sei das "Gift". Das sind harte Vorwürfe – aber sind sie auch begründet?

Politikum Verfassungsschutz

Bekanntlich hat sich der Fokus des gesamten Verfassungsschutzverbundes bereits seit einigen Jahren zusehends in Richtung des Rechtsextremismus verschoben. Besonders die Neue Rechte wird intensiv überwacht; von der AfD über die Identitäre Bewegung bis zu Compact, dessen Verbot aktuell hohe Wellen schlägt. Zumindest überwiegend ohne klassische NS-Rhetorik, aber auch durch die Nutzung moderner Kommunikationskanäle, versuchen die betreffenden Akteure, in den demokratischen Diskurs einzugreifen – und sind nicht verlegen, den Verfassungsschutz ins Visier politischer Kampagnen zu nehmen. Insbesondere Bundesamts-Präsident Thomas Haldenwang ist längst ein "Lieblingsgegner" einschlägiger politischer Anwürfe.

Wohl auch in Reaktion darauf äußert sich Haldenwang selbst gleichermaßen häufig wie pointiert, obwohl Nachrichtendienste traditionell eher geräuschlos agieren. § 16 Abs. 1 Bundesverfassungsschutzgesetz ermächtigt das BfV jedoch ausdrücklich zur Öffentlichkeitsarbeit, wenn die allgemeine Tätigkeitsschwelle des Verfassungsschutzrechts ("tatsächliche Anhaltspunkte" für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung) überschritten ist und die vorhandenen Erkenntnisse zudem "hinreichend gewichtig" sind. Das letztgenannte Kriterium ist rechtsprechungsgeprägt und soll spezifisch bei der Informationsarbeit des Inlandsnachrichtendienstes eine zusätzliche, wenn auch nicht allzu hohe Eingriffshürde gegenüber der bloßen (nichtöffentlichen) Beobachtung aufstellen. Angesichts der unbestreitbar diskreditierenden Wirkung muss die Mitteilung ferner in jedem einzelnen Fall verhältnismäßig sein – was insbesondere bei Äußerungen aus dem Wissenschafts- oder Pressebereich zusätzlicher Grundrechtsabwägungen bedarf, wie die Justiz erst vor wenigen Tagen zur als linksextremistisch eingestuften Tageszeitung "Junge Welt" betonte

Auf strafbare Äußerungen kommt es nicht an

Anknüpfungspunkt für ein Tätigwerden des Verfassungsschutzes können nicht nur solche Verhaltensweisen sein, die die Grenzen des Strafrechts überschreiten. Das Oberverwaltungsgericht Münster bestätigte in seiner kürzlich veröffentlichten Urteilsbegründung zur Einstufung der AfD als Verdachtsfall: Für eine nachrichtendienstliche Bearbeitung sei es jedenfalls "nicht entscheidend", ob die herangezogenen Äußerungen vom Schutz der Meinungsfreiheit noch umfasst werden. Denn die streitbare Demokratie solle gerade auch „den Missbrauch grundrechtlich geschützter Freiheiten zur Abschaffung der Freiheit verhindern“.

Dennoch wird insbesondere in rechtsradikalen und -extremistischen Medien oft behauptet, der Verfassungsschutz dürfe Äußerungen, die strafrechtlich keiner Sanktion unterliegen, auch nicht im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit aufgreifen. Die Strategie derartiger Kampagnen scheint aufzugehen: Als Haldenwang Anfang April in der F.A.Z. mit deutlichen Worten Kritik zurückwies und sich dabei auf die Befugnisnormen im Verfassungsschutzrecht berief, warf ihm der frühere Bundesminister Rupert Scholz im selben Blatt nicht weniger als "ein verräterisches Bekenntnis" über sein "undemokratisches Amtsverständnis" vor. Und Mecklenburg-Vorpommerns früherer Finanzminister Mathias Brodkorb will sich sogar an die DDR sowie Heinrich Manns "Untertan“" erinnert fühlen. Es ist besorgniserregend, dass solche Aussagen, die politische Vorbehalte auf eine (vermeintliche) verfassungsrechtliche Ebene verlagern, inzwischen immer häufiger auch von eigentlich anerkannter Seite geäußert werden.

Zurück nach Niedersachsen

Was bedeutet diese Entwicklung mit Blick auf den X-Beitrag aus Hannover? Klar ist: Es waren die Landesbehörden für Verfassungsschutz, die seinerzeit Haldenwangs Vorgänger erst zu einer intensiveren Bearbeitung des Rechtsextremismus drängen mussten und die den aktuellen Kurs des Bundesamtes bis heute mittragen. Ein Posting wie jenes zum "Stolzmonat" kommt den Akteuren der Neuen Rechten da gerade recht und wurde entsprechend der bereits erwähnten Strategie konsequenterweise zur Polarisierung gegen den Inlandsnachrichtendienst verbreitet. 

Breite Empörung ist freilich noch kein belastbares Indiz für Rechtswidrigkeit. Wie auf Bundesebene ist im niedersächsischen Verfassungsschutzgesetz eine Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit enthalten (§ 3 Abs. 3). Eine Einschränkung hinsichtlich erlaubter Informationsweisen oder -kanäle sieht die Norm nicht vor. Auch ein jugendlich inszeniertes X-Video ist somit grundsätzlich zulässig, wenn es der Aufklärung über verfassungsfeindliche Bestrebungen dient. Hinsichtlich des hierfür anzulegenden Verdachtsgrads bereitet das Landesgesetz zwar insofern Schwierigkeiten, als es im Gegensatz zu § 16 Abs. 1 Bundesverfassungsschutzgesetz auf eine ausdrückliche Normierung verzichtet. Aus seiner Gesamtsystematik wird man aber ebenfalls "tatsächliche Anhaltspunkte" genügen lassen müssen, die nach der Rechtsprechung "hinreichend gewichtig" auszufallen haben.

Keine Gewissheit erforderlich

"Tatsächliche Anhaltspunkte" sind mehr als bloße Vermutungen oder Spekulationen; umgekehrt ist es nicht notwendig, Gewissheit über das Vorliegen verfassungsfeindlicher Aktivitäten zu haben. Als Erkenntnisbasis genügen konkrete und verdichtete Umstände, die bei vernünftiger Betrachtung auf das Vorliegen extremistischer Bestrebungen hindeuten. Im konkreten Fall will der niedersächsische Verfassungsschutz, wie er auf X selbst mitteilte, in einigen Kampagnenbeiträgen zum "Stolzmonat" eine Verbreitung des ethnisch-kulturellen Volksbegriffs ausgemacht haben. Tatsächlich haben das Bundesverfassungsgericht und die Fachgerichte in der Vergangenheit vielfach bestätigt, dass es mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar ist, das deutsche Volk in "echte" Deutsche und bloße "Passdeutsche" aufzuspalten.

Vor allem mit Blick auf die verantwortlichen Akteure dürften die Hürden des Verfassungsschutzrechts überwunden sein: Wie die niedersächsische Landesbehörde in ihrem Verfassungsschutzbericht 2023 ausführt, kann sie den "Stolzmonat" der "Identitären Bewegung" zuordnen. Aktiv sollen weiterhin Vertreter aus AfD und "Die Heimat" sowie deren Jugendorganisationen sein. All diese Gruppierungen sind bereits heute als "Verdachtsfälle" oder "gesichert extremistische Bestrebungen" zulässigerweise im Blickfeld des Inlandsnachrichtendienstes.

Sind die allgemeinen Schwellen für ein Tätigwerden des Verfassungsschutzes also erfüllt, so entscheidet sich die rechtliche Zulässigkeit der Veröffentlichung des Videos auf X danach, ob die vorhandenen Anhaltspunkte auch von hinreichendem Gewicht sind. Hieran wird man vielleicht angesichts der wenigen Informationen, die das naturgemäß knappe Video beinhaltet, noch zweifeln können. Spätestens in dem eben erwähnten Verfassungsschutzbericht finden sich aber konkrete Nachweise, die auf eine gefestigte Erkenntnislage der Landesbehörde hindeuten. Zudem steigert der sehr hohe Verbreitungsgrad in einem führenden sozialen Netzwerk auch das staatliche Interesse, vor den damit verbundenen Thesen zu warnen.

Gut gemeint, schlecht gemacht

Vielleicht mag bei manchem ein Störgefühl bleiben – etwa im Sinne der oben erwähnten Kritik, dass sich zahlreiche Äußerungen zum "Stolzmonat" durchaus innerhalb verfassungsmäßiger Grenzen bewegten. Hätten die Niedersachsen also stärker vor konkreten Einzelaktionen warnen müssen? Wer nur die öffentliche Diskussion um den Videoclip verfolgt, könnte tatsächlich den Eindruck unzulässiger Pauschalierung gewinnen. Es wäre vermutlich unverhältnismäßig gewesen, alle Beiträge unter dem betreffenden Hashtag und ihre jeweiligen Autoren ausnahmslos oder überwiegend als extremistisch zu qualifizieren. 

Das hat die Behörde aber auch nicht getan: Bereits in der Anmoderation wurde deutlich, dass die Warnung angesichts einer begrifflichen Umwidmung durch die Neue Rechte erfolgte – sich also gerade appellativ an jene richten sollte, die in Unkenntnis dieser Umstände (legitime) Äußerungen mit dem Hashtag "Stolzmonat" versehen und damit ungewollt Verfassungsfeinden "auf den Leim" gehen könnten. Auch vor diesem Hintergrund bleibt insgesamt festzuhalten, dass der X-Beitrag des Verfassungsschutzes rechtlich nicht zu beanstanden sein dürfte. 

Dennoch hat seine Veröffentlichung vermutlich mehr geschadet als genutzt. Es wäre wünschenswert gewesen, trotz der Kürze des Formats stärker zu differenzieren und die Verantwortlichen konkret zu benennen sowie vermehrt einzelne Belege zu präsentieren. Mit seiner eigentümlichen Kombination aus akademisierter Sprache und bunten Bildchen wirkte das Video zudem nicht unbedingt wie eine seriöse Behördeninformation. Die Veröffentlichung hat es den hinter der Umwidmung des "Stolzmonats" stehenden Extremisten dadurch leicht gemacht, die Arbeit des gesamten Verfassungsschutzverbundes zu diskreditieren und ihn als "Gesinnungspolizei" hinzustellen. Dieses Narrativ ist gefährlich – denn am Ende werden die Dienste unsere Verfassung nur schützen können, wenn sie möglichst breiten Rückhalt in der Bevölkerung genießen.

Der Autor Prof. Dr. Markus Ogorek, LL.M., ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität zu Köln. Der Autor Luca Manns, M.A., ist Geschäftsführer der dort angesiedelten Forschungsstelle Nachrichtendienste.

Zitiervorschlag

Umstrittenes Video: . In: Legal Tribune Online, 26.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55081 (abgerufen am: 27.07.2024 )

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