Trotz Metoo-Debatte und vermeintlicher Gleichberechtigung nutzen viele Anwälte und Professoren weiterhin ihre Machtposition gegenüber Frauen aus. Juliane Wollseif* vergleicht ihre Erfahrungen mit der Serie Ally Mc Beal vor 25 Jahren.
Neulich habe ich angefangen, die Serie Ally McBeal zu schauen. Die berühmte Serie wurde ab 1998 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Es geht darin um Ally McBeal, eine junge Anwältin, die mit den strukturellen Diskriminierungen und dem alltäglichen Sexismus der juristischen Arbeitswelt zu kämpfen hat.
Je mehr Episoden der ersten Staffel ich sah, desto wütender wurde ich. Wütend, weil sich seit der Erstausstrahlung von Ally McBeal bis heute kaum etwas geändert hat. Darüber kann weder hinwegtäuschen, dass Großkanzleien heute mit Diversität werben, noch, dass in Justiz und an Universitäten teilweise Männerquoten eingeführt werden. Die Führungspositionen, Professuren, Partnerschaften und BGH-Vorsitze, bleiben ganz überwiegend männlich besetzt. In den letzten Jahrzehnten wurden allerdings die Methoden verfeinert, die strukturellen Ungleichheiten zu verdecken, die Welt weich zu zeichnen, sodass uns Frauen gesagt werden kann: Wir haben doch schon so viel erreicht – was ist denn eigentlich euer Problem?
Meine Antwort, und es ist nur eine Antwort von vielen, ergibt sich aus einer Synthese zwischen Ally McBeal und persönlichen Erfahrungen, die ich in den letzten zehn Jahren als Frau in der juristischen Arbeitswelt gewonnen habe:
Schweigen oder Gehen? (Folge 1)
In der ersten Folge der Serie wird Ally von einem Partner in der Kanzlei, in der sie arbeitet, sexuell belästigt. Der Partner fasst ihr ungeniert an den Hintern. Ally stellt daraufhin den Managing Partner zur Rede, der aber lieber seinen "Rainmaker" behalten will, als seiner jungen Associate zur Seite zu stehen. Der Managing Partner bittet Ally, zu schweigen. Weil Ally dazu nicht bereit ist, muss sie kündigen und die Kanzlei wechseln.
Schon dieser Pilot erklärt uns eine einfache Regel: Wenn eine Frau am juristischen Arbeitsplatz sexuell belästigt wird, dann hat die Frau entweder zu schweigen, und sich weiter belästigen zu lassen, oder zu gehen, und ihre Karriere (zumindest an diesem Ort) aufzugeben. Für die Männer dagegen hat ihr Verhalten meistens keine Konsequenzen. Sie bleiben.
Ausschnitt Ally McBeal, Staffel 1/1, 20th Century Fox Television
Ich schwieg
Ich war 20 und absolvierte ein Praktikum bei einer internationalen Großkanzlei. Alle Praktikant:innen bekamen einen Anwalt oder eine ältere Anwältin als "Mentor:in" zugeteilt. Mein "Mentor" ignorierte mich während des gesamten Praktikums zunächst. Selbst den obligatorischen Abschiedslunch mit mir sagte er unter einem fadenscheinigen Vorwand ab. Ich war überzeugt davon, dass er mich überhaupt nicht leiden konnte, dass ich etwas getan haben musste, um ihn zu verärgern. Ich kam nur nicht darauf, was, denn ich hatte von anderen Anwält:innen positives Feedback für meine Arbeit erhalten. Am Abend meines letzten Praktikumstages traf sich das gesamte Team in einer Bar, mein Mentor setzte sich neben mich und sprach das erste Mal mit mir. Plötzlich griff er, mitten im Gespräch, mit seiner Hand unter mein T-Shirt und öffnete meinen BH. Ich sprang entsetzt auf und rannte weinend aus der Bar. Ein anderer Praktikant folgte mir und ich fragte ihn aufgebracht, ob er nicht gesehen hätte, was unser Mentor getan hatte. Er beruhigte mich und bat mich, nichts zu sagen, den Vorfall nicht zu melden, denn es sei schließlich mein letzter Tag in der Kanzlei und er müsse noch weiter für unseren Mentor arbeiten. Außerdem habe unser Mentor doch auch Frau und Kinder, ich könnte doch nicht seine Ehe zerstören.
Ich habe nie etwas gesagt. Der andere Praktikant ist in der Kanzlei Anwalt geworden.
Ich ging
Nach Abschluss meines Studiums ergatterte ich meinen ersten "richtigen" Job an einem Lehrstuhl. Ich war, neben der Sekretärin, die einzige weibliche Mitarbeiterin. In fachlicher Hinsicht ignorierte mein Chef mich die ersten drei Jahre weitestgehend, gab mir kein Feedback, wollte nicht mit mir publizieren. Ich dachte wieder, er kann mich nicht leiden, ich hätte ihm etwas getan. Bei Abendveranstaltungen aber setzte er sich neben mich und flüsterte mir vertrauliche Dinge ins Ohr. Irgendwann fing er an, mich immer abzuholen, damit ich ihn in seine Vorlesung begleite. Als ich einmal nicht kommen wollte, wurde er wütend.
Kurz vor der geplanten Abgabe meiner Dissertation lockte er mich unter dem Vorwand, nun mit mir publizieren zu wollen, abends in sein Büro. Dort gestand er mir seine "Liebe". Obwohl ich ihn zurückwies, zwang er mich ab diesem Zeitpunkt, ihn zu Begrüßung und Verabschiedung immer zu umarmen und versuchte dabei, mich zu küssen. Wenn ich ins Büro musste, bekam ich Bauchschmerzen. Als ich einem Lehrstuhlkollegen davon erzählte, sagte er, ich müsse besser aufpassen, was ich trage, denn ich hätte "so eine anziehende Art auf Männer". Als ich einem anderen Lehrstuhlkollegen davon erzählte, sagte er mir, dass ihn das nichts angehe. Er sehe das als eine "Privatsache" zwischen mir und meinem Chef an, aus der er sich raushalten wolle.
Schließlich sah ich keinen anderen Ausweg mehr, als zu kündigen und meine Karriere an dieser Universität aufzugeben. Meine beiden Kollegen und der Professor arbeiten immer noch dort.
Trick der Tragik (Folge 4)
Allys ehemaliger Professor, für den sie an der Law School gearbeitet hat, stirbt. Seine Ehefrau bittet Ally, eine Grabesrede zu halten. Das bringt Ally in eine sehr unangenehme Situation. In Rückblenden erfahren wir, dass Ally eine Affäre mit dem Professor hatte (was seine Frau nicht weiß). Weiter erfahren wir, dass der Professor es war, der die Affäre beendet hatte, und zwar mit den Worten, er liebe nur sie, Ally, aber er "müsse" bei seiner Familie bleiben, es sei "tragisch". Er wünsche sich, Ally schon früher kennen gelernt zu haben. Der Professor stilisiert sich selbst zum tragischen Helden seiner eigenen Erzählung – an die im Folgenden alle Beteiligten der Serie glauben.
Ally wird "die Schuld" an der Affäre gegeben – von ihren männlichen Kollegen, von ihrer besten Freundin René, und vor allem: von ihr selbst. Niemand kommt auf die Idee, Ally darauf hinzuweisen, dass sie in einem strukturellen Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Professor stand, dass er verheiratet war und nicht sie, dass dieser erwachsene Mann die volle Verantwortung für seine Entscheidungen und aufgrund seiner institutionalisierten Machtposition als ihr Chef und Bewerter ihrer Studienleistungen sogar eine gesteigerte Verantwortung in der Situation getragen hat. Im Gegenteil ist Ally die ganze Folge damit beschäftigt, das Vermächtnis und Ansehen des toten Professors zu bewahren.
Ausschnitt, Ally McBeal, Staffel 1/14, 20th Century Fox Television
Ich war die Schuldige
Diesen "Trick der Tragik" hat auch mein Professor verwendet. Nachdem ich ihn zurückgewiesen habe, hat er nicht davon abgelassen, über "uns" sprechen zu wollen und "unsere Liebe", zu der ich nie meine Zustimmung gegeben habe und die also nur seine Liebe war, als "tragisch" zu bezeichnen. Er wünschte sich, gleichsam wie Allys Professor, mich doch nur einige Jahre früher kennengelernt zu haben (zu seinem konkreten Wunschzeitpunkt wäre ich minderjährig gewesen).
Da er tragisch verliebt und ich diejenige war, die eine Gefahr für seine Ehe darstellte, wurde mir mehrmals von meinem männlichen Kollegen vorgeworfen, wieso ich noch nicht gekündigt hätte, denn es sei ja schließlich "meine Schuld", dass er leide. Der arme Professor könne doch nichts für seine Gefühle und ich würde ihn durch meine Präsenz ständig in Versuchung führen.
Lange Zeit glaubte ich an dieses Narrativ und zermarterte mir wie Ally den Kopf darüber, eine möglichst schonende Lösung für alle Beteiligten zu finden, fühlte mich in der Verantwortung für sein Wohlergehen, seine Ehe, seinen Lehrstuhl. Erst nachdem ich gekündigt hatte, kam mir die Erkenntnis – durch die Unterstützung meiner Freund:innen und feministischen Kolleg:innen außerhalb des Lehrstuhls – dass die Gefühle meines Chefs nicht meine Verantwortung sind. Und dass die eigentliche Tragik der Situation darin liegt, dass ich in einer ausweglosen Situation war, in der ich nur die Wahl hatte zu schweigen oder zu gehen (s. Folge 1).
Verknüpfung von Leistung und Sexualität (Folge 18)
In dieser Episode verklagt eine Frau ihren Chef wegen sexueller Belästigung, weil dieser ausschließlich Frauen befördert, die mit ihm schlafen. Die Mandantin trägt vor, sich dadurch unter Druck gesetzt zu fühlen, auch mit ihrem Chef schlafen zu müssen, um in ihrer Karriere weiterzukommen. Allys Kanzlei argumentiert, dass ein sexuell aufgeladenes und aufgedrängtes Arbeitsklima auch geschaffen werden kann, ohne dass eine Frau aktiv belästigt wird. Frauen könne so suggeriert werden, dass, egal wie gut ihre Leistungen sind, sie nur weiterkommen, wenn sie darüber hinaus auch bereit dazu sind, ihre Sexualität einzusetzen.
Ausschnitt, Ally McBeal, Staffel 1/18, 20th Century Fox Television
Dieses toxische Arbeitsumfeld kann effektiv alle Frauen unterdrücken, gerade diejenigen, für die sich der Chef (vermeintlich) nicht interessiert. Es kann sogar dazu führen, dass Frauen "freiwillig" offerieren, mit ihrem Chef zu schlafen, was für das Patriarchat natürlich die perfekte Propaganda ist.
Ich sollte "die eine" Frau an seiner Seite sein
Auch diese Verknüpfung von Leistung und Sexualität beherrschte mein Professor. Er sagte mir, dass er mich besser fördern könne, wenn wir verheiratet wären. Er erzählte mir ständig von seiner Ehefrau, die ebenfalls eine Mitarbeiterin von ihm gewesen war, und versprach mir dieselben Vorteile, die er ihr verschafft hatte, wenn ich mit ihm schlafen würde.
War ich nicht nett zu ihm, ließ ich seine Umarmungen nicht gewähren, hörte er auf, mir wichtige fachliche Informationen zu geben. War ich nicht länger bereit, in meiner Arbeitszeit in stundenlange Gespräche "über uns" verwickelt zu werden, führte er mir andere junge Frauen vor, die "meine Nachfolgerin" werden sollten. Warum, fragte ich mich, sollten diese Frauen "meine Nachfolgerin" sein? Warum konnten sie nicht meine Kollegin werden? Weil es an diesem Lehrstuhl immer nur eine Frau geben durfte, und zwar die Frau, die der Professor erwählt hat und die sich ihm erkenntlich zeigt. Auch dies ist ein klassisches Mittel der patriarchalen Herrschaftssicherung: Frauen werden gezielt gegeneinander ausgespielt, indem ihnen suggeriert wird, es könne nur eine Frau unter vielen Männern geben.
Solange wir dieses Spiel mitspielen, solange wir uns gegeneinander ausspielen lassen und in Konkurrenz zueinander gehen, wird sich daran nichts ändern.
Das Patriarchat lebt
Dies ist nur ein sehr kleiner und willkürlich gewählter Ausschnitt verschiedener sexistischer Erfahrungen, die Ally fiktional und ich real als Frauen in der juristischen Arbeitswelt gemacht haben. Der Text zeigt nur einige der vielen subtilen Mittel auf, deren Männer sich bedienen, um Frauen nach wie vor strukturell in der juristischen Arbeitswelt zu unterdrücken. Klar ist: von wahrer Gleichberechtigung in der juristischen Arbeitswelt sind wir noch weit entfernt– trotz einzelner bewundernswerter Frauen, die es geschafft haben, die patriarchalen Abwehrmechanismen zu umgehen.
Meine Mutter, ebenfalls Juristin, hatte mir damals davon abgeraten, Jura zu studieren, unter anderem aufgrund der sexistischen Erfahrungen, die sie selbst machen musste. Ich würde meiner Tochter in 20 Jahren gerne einen anderen Rat geben können. Gerade könnte ich es nicht.
Die Autorin ist promovierte Juristin. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen erscheint der Text unter einem Pseudonym. Die Identität der Autorin ist der LTO-Redaktion bekannt.
Auch 25 Jahre nach Ally McBeal: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51308 (abgerufen am: 19.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag