Seit Monaten wird darüber spekuliert, wann Straßburg sich zu dem Putschversuch in der Türkei äußern wird. Nun könnte es so weit sein. Der EGMR muss höchst politische Entscheidungen in einem zerbrechlichen Gefüge fällen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in den vergangenen Monaten viel Kritik einstecken müssen. Zu langsam, zu zögerlich, zu zurückhaltend behandele er all die Beschwerden, die ihn erreichten nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei im Juli 2016.
Für den Putschversuch macht die türkische Regierung den im Exil in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwortlich. Unterstützer und vermeintliche Anhänger Gülens werden seither von der Türkei verfolgt.
In der Folge haben rund 30.000 Beschwerden von Inhaftierten und Entlassenen den EGMR erreicht. Mehr als 28.000 wurden bereits als unzulässig abgewiesen. Die Begründung der Straßburger Richter: Die Beschwerdeführer müssen zunächst den Rechtsweg in der Türkei ausschöpfen.
Das mag auf den ersten Blick höhnisch wirken, zumal unter den Inhaftierten und Entlassenen auch zahlreiche Richter und Anwälte sind. Die erste Beschwerde, die der EGMR als unzulässig zurückwies, war die einer jungen Richterin (Urt. v. 17.11.2016, Az. 56511/16).
Der EGMR agiert im Kontext einer Staatenorganisation
Einfach über das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung hinwegzufegen, wäre aber keine besonders gute Idee gewesen - obwohl die eigene Rechtsprechung den Straßburger Richtern dazu im Notfall sogar den Raum gegeben hätte: So gilt zwar der Grundsatz der Subsidiarität. Beschwerdeführer müssen aber keine nicht-effektiven oder von vornherein aussichtslosen Rechtsbehelfe ergreifen.
Ob die türkische Justiz noch effektiv funktioniert, daran mag es berechtigte Zweifel geben. Warum tat Straßburg also dennoch gut daran, zunächst auf der Rechtswegerschöpfung zu beharren? Die Verfahren gegen die Türkei sind hochpolitisch. Der EGMR ist zwar unabhängig, agiert aber als Organ und im Kontext einer Staatenorganisation. Und das Europarat-Mitglied Türkei wähnt auch so schon an allen Ecken eine ungerechte Behandlung und nutzt dies für seine Zwecke.
So hatte sich Ankara über zwei Entscheidungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, in der Abgeordnete der Mitgliedstaaten vier Mal im Jahr zusammenkommen, ganz besonders empört: Erst wurde die Türkei im April nach 13 Jahren wieder unter volle Beobachtung gestellt - aus Sorge um die Demokratie in dem Land. Dann verlieh die Versammlung dem inhaftierten türkischen Juristen Murat Arslan ihren Menschenrechtspreis, dabei hält Ankara den Mann für ein Gülen-Mitglied.
Die Türkei reagierte mit der Drohung, ihre Zahlungen an den Europarat von bisher etwa 34 Millionen Euro auf rund 14 Millionen Euro zu kürzen. Das Land zählte seit 2016 zu den sechs großen Beitragszahlern, die jeweils etwa zehn Prozent des Gesamtbudgets tragen. Den Europarat könnte die Androhung in finanzielle Nöte bringen, da Russland - ein weiterer großer Beitragszahler - derzeit kein Geld überweist.
Der Weg ist frei
Soweit also das politische Setting, in dessen Rahmen irgendwo auch der EGMR agiert und in dem er nicht ohne Weiteres Zulässigkeitsvoraussetzungen über den Haufen werfen kann, um inhaltlich über Beschwerden nach dem Putschversuch zu entscheiden.
Nun hat aber ein Istanbuler Instanzgericht im Januar selbst den Weg frei gemacht für erste Urteile aus Straßburg. Das Gericht hatte sich geweigert, die Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay freizulassen, obwohl das türkische Verfassungsgericht zuvor entschieden hatte, dass die andauernde Untersuchungshaft für die beiden Männer deren Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie die Meinungs- und Pressefreiheit verletze. Am vergangenen Freitag bestätigte das türkische Verfassungsgericht, dass die fortgesetzte Inhaftierung von Alpay trotz seines gegenteiligen Urteils dessen Grundrechte verletzt und sprach ihm eine Entschädigung zu. Die Richter betonten, dass ihre Entscheidungen bindend seien.
Der EGMR kann damit nun die Beschwerden von Altan und Alpay inhaltlich prüfen - er muss nicht mehr am Zulässigkeitskriterium der Rechtswegerschöpfung halt machen. Denn die beiden Männer haben es zumindest versucht vor den türkischen Gerichten. Dem EGMR bleibt es damit - vorerst – zumindest erspart, ein Urteil über die Funktionsfähigkeit der türkischen Justiz zu fällen.
Worüber der EGMR entscheiden wird
Nicht erspart bleiben den Straßburger Richtern, die eine Entscheidung für den morgigen Dienstag angekündigt haben, wohl vor allem zwei Bewertungen:
Darf sich die Türkei auf eine Aussetzung der Menschenrechtskonvention berufen, und wenn ja, in welchem Umfang? Gemäß Artikel 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) kann - verkürzt formuliert - ein Staat im Ausnahmezustand für eine begrenzte Zeit das Ausmaß seiner Verpflichtungen nach der EMRK reduzieren, soweit es die Lage unbedingt erfordert. Die Türkei tut das seit dem Putschversuch. Auf Kritik daran reagiert Ankara übrigens gerne mit einem Verweis auf Frankreich und dem Vorwurf, es werde mit zweierlei Maß gemessen. Paris hatte nach den Anschlägen vom 13. November 2015 ebenfalls mehrmals von Artikel 15 Gebrauch gemacht, woran sich - so die türkische Lesart - aber niemand gestört habe.
Daneben ist spannend, wie sich der EGMR zu dem Vorwurf verhalten wird, die Inhaftierungen von Altan und Alpay seien politisch motiviert. Nach Artikel 18 EMRK dürfen Rechte und Freiheiten nur zu den vorgesehenen Zwecken eingeschränkt werden. Der EGMR nimmt einen Verstoß gegen Artikel 18 in der Regel nur sehr zurückhaltend an. Allerdings hat sich die Große Kammer erst im November 2017 ausführlich zu den Voraussetzungen geäußert. Im Urteil Merabischwili gegen Georgien hat sie die Straßburger Rechtsprechung dazu zusammengefasst und fortentwickelt (Urt. v. 28.11.2017, Az. 72508/13).
Dabei wurden insbesondere die Anforderungen an einen Beweis für eine Verletzung von Artikel 18 EMRK gesenkt. Früher hatte der EGMR teilweise unwiderlegbare und unmittelbare Beweise ("incontrovertible and direct proof") von den Beschwerdeführern verlangt. Nun sollen die allgemeinen Beweisregeln gelten. Danach liegt die Beweislast nicht allein bei der einen oder der anderen Partei. Der Gerichtshof kann vielmehr auch selbst Material einfordern und Rückschlüsse aus dem Verhalten einer Regierung ziehen, wenn nur sie allein Zugang zu relevanten Informationen hat.
Würde die Türkei die Urteile umsetzen?
Bleibt die Frage, welche Konsequenzen mögliche Verurteilungen realistischerweise haben können. Die Türkei ist an die Straßburger Urteile gebunden, muss diese also umsetzen. Alpay wurde am Wochenende aus der Untersuchungshaft entlassen und unter Hausarrest gestellt. Zuvor hatte das Verfassungsgericht ein zweites Mal über seinen Fall entschieden und dabei betont, dass seine Urteile bindend sind. Das Strafverfahren gegen ihn läuft noch.
Altan wurde dagegen zwischenzeitlich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wegen des Versuchs, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen. Da sich die Beschwerden vor dem EGMR nur gegen die Untersuchungshaft richten, wäre die Türkei zu einer Freilassung von Altan - im Falle einer Verurteilung - also nur verpflichtet, wenn er sich bei Rechtskraft des EGMR-Urteils überhaupt noch in Untersuchungshaft und nicht bereits im Strafvollzug befände.
Allerdings verpflichten die Straßburger Urteile über die individuellen Fälle hinaus auch dazu, strukturelle Probleme anzugehen. Für Ernüchterung sorgt da der Blick zurück auf einen Fall, der den EGMR vor ein paar Jahren beschäftigte. 2011 wurde der Journalist Ahmet Sik für über ein Jahr in Untersuchungshaft genommen - unter anderem wegen Kritik an der Gülen-Bewegung. Auch er wurde freigelassen, bevor Straßburg über seinen Fall entschied.
Der EGMR stellte später dennoch fest, dass die Untersuchungshaft unverhältnismäßig gewesen ist und solche Maßnahmen ein Klima der Selbstzensur unter investigativen Journalisten erzeugen können (Urt. v. 8.7.2014, Az. 53413/11). In einem Bericht zur Umsetzung des Urteils beteuerten die türkischen Behörden, man werde den Europarat darüber informieren, wie ähnliche Rechtsverletzungen künftig verhindert werden könnten. Was stattdessen geschah? Im Dezember 2016 kam Sik erneut für über ein Jahr in Untersuchungshaft. Dieses Mal wird ihm die Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen.
Im Übrigen zählt die Türkei zu den Staatenmit den schlechtesten Umsetzungsbilanzen. Gegen das Land sind bis Ende 2017 rund 3.000 Urteile ergangen. Etwa 1.430 Urteile waren 2016 noch nicht umgesetzt. Aktuelle Zahlen zu den Umsetzungsbilanzen aller Europarat-Mitglieder sollen Anfang April veröffentlicht werden.
Könnte der EGMR sie dazu zwingen?
Schließlich sind die Durchsetzungsmöglichkeiten des Europarats beschränkt. 2014 wurde in Artikel 46 EMRK die Möglichkeit eingeführt, dass der EGMR auf Initiative von Zweidrittel der Mitgliedstaaten überprüfen kann, ob ein Land ein Urteil umgesetzt hat oder nicht. Im vergangenen Jahr wurde dieses Verfahren erstmals gegenüber Aserbaidschan angewandt. Das Land weigert sich seit Jahren, den Oppositionspolitiker und Menschenrechtsaktivisten Ilgar Mammadow freizulassen, obwohl es dazu nach einem Urteil des EGMR verpflichtet ist (Urt. v. 22.5.2015, Az. 15172/13).
Das Verfahren gilt als erster Schritt hin zu einem Ausschluss aus dem Europarat. Doch für wen wäre eine solche Konsequenz am Ende bedrohlich? Tatsächlich für die autoritären Regierungen in Baku, Moskau oder Ankara? Oder eher für die Bürger, die in einem dieser Länder in Haftsitzen? Ein Rauswurf dieser Staaten aus dem Europarat mag einem nur konsequent und manchmal gar zwingend erscheinen. Für die Menschen aber hätte er zur Folge, dass Straßburg nicht einmal mehr eine langsame, zögerliche oder zurückhaltende Instanz wäre.
Damit der Gerichtshof eine Alternative bleibt, muss er bestimmt und vorsichtig zugleich vorgehen. Das mag man ihm ungeduldig als Zögerlichkeit vorhalten. Im zerbrechlichen Gefüge völkerrechtlicher Verpflichtungen ist es alternativlos.
Inhaftierte Journalisten in der Türkei: . In: Legal Tribune Online, 19.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27597 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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