Im besten Fall kommt Donald Trump nicht auf die Wahlzettel für das Präsidentschaftsamt – so sehen es Gegner und viele Parteifreunde und erheben Klagen. Ob eine alte Verfassungsnorm ihnen helfen kann, weiß Benedikt Gremminger.
Gerichtssäle in Colorado und Minnesota sind derzeit Schauplätze zweier denkwürdiger Verfahren mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen für die nächste Präsidentschaftswahl am 5. November 2024. Dort geht es um Klagen, die eine Streichung von Ex-Präsident Donald Trump von den Wahlzetteln für die Vorwahlen und Präsidentschaftswahlen bezwecken. Hauptstreitpunkt dieser Klagen ist der dritte Abschnitt des 14. Zusatzartikels der Bundesverfassung (Section 3 genannt). Dies Norm schließt Personen, die an einem Aufstand oder einer Rebellion beteiligt waren, von (bestimmten) öffentlichen Ämtern aus.
Anderson v Griswold und Growe v Simon
In dem Verfahren in Colorado (Anderson v Griswold) klagen sechs Wähler gemeinsam mit der zivilgesellschaftlichen Gruppe Citizens for Responsibility and Ethics in Washington (CREW). Vergangene Woche fand dazu eine fünftägige Anhörung vor Bezirksrichterin Sarah Wallace statt, welche sich insbesondere der rechtlichen Bedeutung und dem historischen Kontext des 14. Zusatzartikels widmete. Einer Entscheidung in der Sache stehen allerdings noch verschiedene prozessuale Vorfragen entgegen, auch wenn Bezirksrichterin Wallace bis jetzt die entsprechenden Abweisungsanträge von Trumps Anwälten abgelehnt hat.
Die gleiche verfassungsrechtliche Frage stellt sich im Parallelverfahren Growe v Simon im nördlichen Bundesstaat Minnesota. Eine spezielle Vorschrift im Recht von Minnesota (Minnesota Statute § 204B.44) gibt den Bürgern dort die Möglichkeit, fehlerhafte Wahlzettel in Bezug auf die Wählbarkeit von Kandidaten für Ämter auf Staaten- oder Bundesebene unmittelbar vor dem Minnesota Supreme Court zu rügen. Hierauf beruft sich in Growe v Simon eine Gruppe republikanischer Wähler, prominent angeführt von Joan Growe, einer ehemaligen Secretary of State von Minnesota und Paul Anderson, einem ehemaligen Richter am Minnesota Supreme Court. Ihrer Ansicht nach war Donald Trump durch sein Verhalten nach der Präsidentschaftswahl 2020 und insbesondere um den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 an einem Aufstand gegen die Vereinigten Staaten beteiligt (engaged in insurrection) und sei daher aufgrund des 14. Verfassungszusatzartikel automatisch von der Präsidentschaft ausgeschlossen.
Section 3: Eine lang vergessene Vorschrift der US-Verfassung?
Der Wortlaut des dritten Abschnitts des 14. Zusatzartikel hat dazu einen vermeintlich klaren Regelungsgegenstand. Grob übersetzt stellt er klar, dass "niemand {…} Senator oder Abgeordneter im Kongress oder Wahlmann für die Wahl des Präsidenten oder Vizepräsidenten sein {darf}, irgendein ziviles oder militärisches Amt im Dienste der Vereinigten Staaten oder eines Einzelstaates bekleiden {darf}, der, nachdem er als Mitglied des Kongresses oder als Beamter der Vereinigten Staaten {…} auf die Einhaltung der Verfassung der Vereinigten Staaten vereidigt worden ist, an einem Aufstand oder Rebellion gegen sie teilgenommen oder ihre Feinde unterstützt oder begünstigt hat{…}."
Dieser Abschnitt des 14. Zusatzartikels wurde im Jahr 1868 im unmittelbaren Nachspiel des Amerikanischen Sezessionskriegs (1861-1865) ratifiziert und wurde wohl primär zur Verfassung hinzugefügt, um zu verhindern, dass ehemalige Offiziere oder Politiker der besiegten Südstaaten erneut politische Ämter in den Vereinigten Staaten bekleiden konnten. Section 3 gehörte hierbei zu den sogenannten Reconstruction Amendments, welche mit dem verfassungsrechtlichen Verbot der Sklaverei (13. Zusatzartikel), dem Staatsbürgerschaftsrechts- und Gleichbehandlungsartikel (14. Zusatzartikel, Section 1) und dem Wahlrechtsartikel (15. Zusatzartikel) die Verfassung und Gesellschaft der USA nach Ende des verlustreichen Bürgerkriegs umzugestalten versuchten. Während der erste Abschnitt des 14. Zusatzartikels sowie der 15. Zusatzartikel bis heute zentrale Vorschriften im Verfassungsgefüge der USA sind, kam Section 3 hingegen bis auf einige Fälle in den Nachbürgerkriegsjahren kaum zur Anwendung.
Erst Trumps Weigerung, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl 2020 anzuerkennen und der darauffolgende Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 durch einen Teil seiner Anhänger brachten Section 3 zurück in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit. Wähler in Georgia und North Carolina versuchten 2022 erfolglos mit Rekurs auf Section 3, ihre republikanischen Kongressabgeordneten aufgrund deren Beteiligung am 6. Januar aus ihren Ämtern zu entheben. In New Mexico wurde hingegen der lokale Amtsträger Couy Griffins, welcher persönlich am Sturm auf das Kapitol teilgenommen hatte, auf Grundlage des 14. Zusatzartikels aus seinem Amt entfernt und dauerhaft für weitere öffentliche Ämter disqualifiziert.
Eine lebhafte Debatte mit überraschenden Wortführern
Die große Wiederbelebung dieser Debatte erfolgte im Sommer 2023, parallel zur Erhebung verschiedener diesbezüglicher Klagen in den gesamten USA. Im August veröffentlichten die Rechtswissenschaftler William Baude und Michael Stokes Paulsen – als Mitglieder der konservativ-libertären Juristenvereinigung Federalist Society der politischen Abneigung gegen Trump eher unverdächtig – einen vielfach rezipierten, ausführlichen Artikel in einer Fachzeitschrift, in dem sie für eine automatische Disqualifikation von Trump auf Grundlage des 14. Zusatzartikels argumentierten.
Nur wenig später schlossen sich Professor Laurence Tribe und der ehemalige konservative Bundesrichter und Supreme Court-Anwärter Michael Luttig, jeweils hochangesehene juristische Schwergewichte, dieser Analyse in einem Zeitungsartikel an. Gerade die Rückdeckung durch prominente konservative Juristen, aber auch hohe republikanische Amtsträger, befeuerte dabei eine ernsthafte Diskussion um die Erfolgsaussichten solcher Disqualifikationsverfahren.
Streit um unmittelbaren Vollzug von Section 3
Gleichwohl stehen den Bestrebungen zur Disqualifikation von Trump eine ganze Reihe an umstrittenen Streitfragen entgegen. So ist in einem ersten Schritt bereits unklar, inwieweit sich Section 3 überhaupt aus seinem historischen Kontext im 19. Jahrhundert auf heutige Sachverhalte übertragen lässt.
Darüber hinaus bestreiten Donald Trumps Anwälte und Stimmen aus der Rechtswissenschaft den Selbstvollzug von Section 3. Hiernach sei für die Anwendung von Section 3 ein Implementierungsgesetz des US-Kongresses erforderlich, welches bis heute fehlt. In Ermangelung eines solchen Umsetzungsgesetzes sei es allein die Aufgabe des US-Kongresses über die Disqualifikation von Kandidaten für politische Ämter auf Bundesebene zu entscheiden. Auch ein umstrittenes Urteil von Chief Justice Salmon P. Chase (in seiner Funktion als unterer Bundesrichter in Virginia) aus dem Jahr 1869 scheint einen Selbstvollzug von Section 3 abzulehnen.
Ebenso wird auch diskutiert, inwieweit Section 3 überhaupt auf das Amt des US-Präsidenten anwendbar ist und in welchem Verhältnis Section 3 zur verfassungsrechtlich verbrieften Meinungsfreiheit (1. Zusatzartikel) steht.
War es ein Aufstand gegen die USA?
Selbst wenn man Section 3 auf Trump im vorliegenden Fall für anwendbar hielte, müssten die Gerichte in Trumps Verhalten zudem eine Beteiligung an einem Aufstand gegen die Vereinigten Staaten sehen. Bereits die genaue Bedeutung des Wortes "Aufstandes" ist hochumstritten, wobei viele Rechtswissenschaftler angesichts der Qualität des Eingriffs in den demokratischen Prozess eine restriktive Lesart favorisieren. Trotz weitreichender Untersuchungen und Berichterstattungen ist Trumps genaue Rolle und Verantwortung im Rahmen des Sturms auf das Kapitol noch nicht abschließend geklärt.
Insbesondere die Bedeutung seiner Rede vor seinen Anhängern am 6. Januar 2021, welche der Gewalt um das Kapitol unmittelbar vorausging, steht dabei im Mittelpunkt dieser Diskussionen. Der zuständige Untersuchungsausschuss des US-Kongresses hatte zwar in seinem Abschlussbericht aus dem Jahr 2022 dem US-Justizministerium eine Anklage Trumps wegen Mitwirkung an einem Aufstand (engaged in an insurrection) angeraten. Gleichwohl wurde Trump im folgenden strafrechtlichen Verfahren vor einem Bundesgericht in Washington D.C. keine Beteiligung an einem Aufstand im strafrechtlichen Sinne, sondern nur andere Straftaten vorgeworfen (dazu bei LTO).
Gerade im Lichte der verworrenen Debatte um Section 3 und der offenen tatsächlichen Fragen erscheint eine Disqualifikation durch die Gerichte in Colorado oder Minnesota von Ex-Präsident Trump daher einem weiten Teil der Beobachter eher unwahrscheinlich.
Weitgehende Skepsis im Rahmen der ersten Anhörungen
Eine ähnliche Skepsis zeigte sich auch im Rahmen der ersten Anhörungen. So wies die Vorsitzende Richterin des Minnesota Supreme Court, Chief Justice Natalie Hudson, in der Anhörung auf die Schwierigkeiten für Gerichte hin, einheitliche Standards für die Feststellung eines Aufstandes oder einer Rebellion zu entwickeln. Gleichermaßen hinterfragten Teile des siebenköpfigen Richterkollegiums, inwiefern Gerichte der Einzelstaaten über die Disqualifikation von Präsidentschaftskandidaten entscheiden sollten, da so die Gefahr eines Flickenteppichs an zulässigen Kandidaten in den verschiedenen Bundesstaaten entstehen werden könnte.
Sowohl in Minnesota als auch in Colorado wird eine rasche Entscheidung in den kommenden Monaten erwartet, um eine Berücksichtigung der Ergebnisse in den Vorwahlen im März und Juni zu ermöglichen. Nach den ersten Entscheidungen der einzelstaatlichen Gerichte sind Rechtsmittel bis hin zum US-Supreme Court wahrscheinlich, um eine abschließende Klärung vor der Präsidentschaftswahl zu gewährleisten.
Die Disqualifikationsverfahren im Kontext der nächsten Präsidentschaftswahl
Gleichzeitig überschatten zahlreiche politische Erwägungen die Diskussionen über die Disqualifikationsverfahren. So besteht die Befürchtung, dass Trumps republikanische Anhänger sie als weiteren Versuch ansehen werden, durch eine (vermeintlich) politisierte Justiz demokratische Prozesse auszuhöhlen. Sowohl die Impeachment-Prozesse gegen Trump als auch die verschiedenen straf- und zivilrechtlichen Verfahren gegen ihn nach Amtsende haben seinem Ansehen in der republikanischen Basis nicht geschadet und gleichzeitig das Vertrauen dieser Basis in eine unabhängige Justiz geschwächt. Insoweit besteht auch bei diesen Verfahren die Möglichkeit, dass Trump, der auch diese Disqualifizierungsverfahren als unzulässige Wahlbeeinflussung kritisierte, hiervon am Ende politisch profitieren könnte.
Ebenso eindrücklich ist der starke Widerhall, den die Debatten und Verfahren über die Disqualifikation von Trump gerade jetzt finden. Aktuell führt Trump viele Umfragen für die nächste Präsidentschaftswahl an, während Amtsinhaber Joe Biden auf eher schwache Beliebtheitswerte blickt. Angesichts des weitreichenden Achselzuckens von großen Teilen der republikanischen Basis in Bezug auf die gegen Trump geführten Ermittlungsverfahren, die von ihm geschürten Ressentiments und sein antidemokratisches Verhalten während der letzten Präsidentschaftswahl, erscheinen daher diese rechtlichen Disqualifikationsverfahren vielen liberal-progressiven Beobachtern als eleganter Ausweg aus der erwarteten politischen Schlammschlacht im Rahmen der nächsten Präsidentschaftswahl. Donald Trumps Öffentlichkeitsstrategie im Rahmen dieser Verfahren scheint hingegen gerade darauf gerichtet zu sein, diese Hoffnung als trügerische Illusion zu entlarven. Durch den wiederholten Vorwurf der politisierten Hexenjagden sollen nun auch diese Gerichtssäle zu einem weiteren Austragungsort der tiefgreifenden politischen Zerwürfnisse der amerikanischen Gesellschaft werden.
Benedikt Gremminger studiert Rechtswissenschaften an der Universität Bonn, zwischenzeitlich auch an der Université de Fribourg (Schweiz). Er schreibt regelmäßig für The New Federalist und The Brussels Times.
Der Ex-US-Präsident und der 14. Zusatzartikel: . In: Legal Tribune Online, 08.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53106 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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