Nach dem Terroranschlag von Berlin sind die Rollen klar verteilt: Die Populisten rufen vorschnell nach neuen Gesetzen, für die Besonnenen müsste das geltende Recht "nur" angewandt werden. So einfach ist es nicht, meint Michael Kubiciel.
Politisch verantwortlich für den Anschlag von Berlin soll, glaubt man Stellungnahmen in Medien und Politik, ein multiples Versagen der Sicherheitsbehörden sein. Es hätte nicht sein dürfen, schreibt etwa die Stuttgarter Zeitung, dass ein derart gefährlicher Mann frei herumlaufe; die Behörden hätten Amri rechtzeitig "festsetzen" müssen.
Die Kritiker blenden dabei nicht nur aus, dass Bund und Länder nicht über genügend qualifiziertes Personal verfügen, um die bundesweit 500 Gefährder lückenlos rund um die Uhr zu beobachten. Bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktlage dürfte sich das auch kaum zeitnah ändern lassen; der Fall des als Islamisten enttarnten Mitarbeiters des Bundesamtes für Verfassungsschutzes spricht Bände.
Aber auch das geltende Recht reicht weniger weit, als Medien und Politik glauben machen wollen. Die Sicherheitsbehörden haben es nicht einfach "versäumt", Anis Amri rechtzeitig zu stoppen. Die rechtlichen Mittel ließen ein rechtzeitiges Eingreifen schlicht nicht zu. Der Fall Amri macht deutlich, dass es bislang nur begrenzte Möglichkeiten gibt, ausreisepflichtige ehemalige Asylbewerber zum Zwecke der Abschiebung zu inhaftieren. Und zwar selbst dann, wenn sie nach der Einschätzung der Sicherheitsbehörden eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung darstellen. Das muss sich ändern. Und dafür reichen die Vorschläge von Bundesinnenminister Thomas de Maizière noch nicht aus.
Polizeirecht: nur ein schmales Zeitfenster für den Zugriff
Viel zu wenig diskutiert wurde bislang, dass Anis Amri bis unmittelbar vor Beginn der Tatausführung auch durch das Raster des Polizei- und Strafrechts gefallen ist. Und fallen musste.
Richtig ist zwar der Hinweis darauf, dass das Polizeirecht der Länder eine präventive Gewahrsamnahme zulässt, wenn dies "unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung (...) einer Straftat (...) von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern", wie es etwa in § 35 Abs. 1 Nr. 2 des nordrheinwestfälischen Polizeigesetzes heißt.
Unmittelbar bevor stand der Anschlag auf dem Breitscheidplatz aber erst, als er in nächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten war. Da Amri den Anschlag nicht angekündigt hatte, hätten die Beobachtungskräfte der Polizei und des Verfassungsschutzes – wären sie denn in der Nähe gewesen – abwarten müssen, bis ihnen klar geworden wäre, zu welchem Zweck sich Amri dem LKW nähert. Das Zeitfenster, welches das Polizeirecht für einen wirkungsvollen Zugriff lässt, ist also sehr schmal.
Und das Strafrecht?
Wie steht es mit dem Strafrecht? Kurz gesagt: nicht besser. Grundsätzlich beginnt die Strafbarkeitsschwelle bei dem unmittelbaren Ansetzen zum Versuch einer Straftat (§ 22 Strafgesetzbuch, StGB). Strafrechtliche Interventionsmöglichkeiten bestanden damit ebenfalls erst zu dem Zeitpunkt, zu dem sich Amri aufmachte, den LKW zu "kapern", d.h. bei Zueignungsabsicht einen Raub, anderenfalls eine Nötigung zu begehen.
Die Vorschriften der §§ 129a, 129b StGB enthalten zwar eine – von großen Teilen der deutschen Strafrechtswissenschaft als systemwidrig kritisierte – Ausweitung der Strafbarkeitszone: Strafbar macht sich danach bereits, wer eine (ausländische) terroristische Vereinigung unterstützt.
Bei Terroristen, die einen Anschlag weitgehend autonom planen, ist jedoch mehr als fraglich, ob von einer Unterstützung in diesem Sinne, die dem sog. Islamischen Staat einen Vorteil bringt, die Rede sein kann. Amri hat sich, nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen, vor der Tat nicht einmal symbolisch zum sog. IS bekannt. Stattdessen hat die Terrororganisation den Anschlag erst nachträglich für sich reklamiert. Auf Täter wie Amri und andere Einzeltäter, einsame Wölfe also, lassen sich die §§ 129a, 129b StGB folglich nicht anwenden.
§ 89a StGB: So restriktiv, dass er wirkungslos ist
Um diese bei Einzeltätern bestehende Strafbarkeitslücke zu schließen, hat der Gesetzgeber in der Zeit nach 9/11 in § 89a StGB den Straftatbestand der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat geschaffen.
Auch diese Vorschrift hat die deutsche Strafrechtswissenschaft als systemwidrig bekämpft. Infolge dieser Kritik hat der BGH an den Nachweis des subjektiven Tatbestandes derart hohe Anforderungen gestellt, dass er praktisch weitgehend wirkungslos geworden ist. Unabhängig davon ist § 89a StGB auf den in den 1990-er und 2000-er Jahren verbreiteten Typus von Attentäter zugeschnitten: Dieser baut Bomben, steuert aber keine PKW oder LKW in Menschenmengen. Vergröbernd gesprochen macht sich daher nach dem geltenden Recht nur derjenige strafbar, wer sich Mittel für den Bau von Bomben beschafft. Amri hätte sich daher nicht einmal strafbar gemacht, wenn bekannt gewesen wäre, dass er einen LKW kapern will, um ihn in den Weihnachtsmarkt zu steuern.
Wie man sieht, wäre es zu einfach, die Verantwortung für den Anschlag von Berlin einseitig den Behörden zuzuschieben und damit auf den unteren Ebenen der Exekutive zu isolieren. Vielmehr muss sich auch die Legislative fragen lassen, ob sie die Sicherheitsbehörden mit ausreichenden rechtlichen Ressourcen ausgestatten hat. Zweifel daran sind angebracht.
Eine Veränderung der Sicherheitsarchitektur reicht nicht
Was also ist zu tun? Thomas de Maizière (CDU*) hat am Dienstag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Zentralisierung der Sicherheitsarchitektur in Deutschland sowie eine Ausweitung der Ermittlungsmöglichkeiten im Internet gefordert. Das ist sicherheitspolitisch sinnvoll, um Terroristen effektiv beobachten zu können, die wie Amri nicht nur durch mehrere Bundesländer, sondern auch mehrere europäische Staaten reisen.
Mit einer Beobachtung allein ist es aber nicht getan. Auch die vom Bundesinnenminister vorgeschlagene Ausweitung der Abschiebehaft dürfte nicht ausreichen: Schließlich können nicht alle Gefährder ausgewiesen und abgeschoben werden.
Eine Ausweitung des Strafrechts scheint ebenfalls nicht ratsam. Denn es wird sich kein Tatbestand formulieren lassen, welcher dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz entspricht und gleichzeitig allen denkbaren Anschlagsvarianten Rechnung trägt. Das dem Prinzip der Tatschuld verpflichtete Strafrecht ist zu behäbig, um mit der Findigkeit von Terroristen Schritt halten zu können. Als im Jahr 2009 § 89a StGB entwickelt und verabschiedet wurde, ließ sich noch nicht absehen, dass sieben Jahre später Attentäter LKWs in Menschenmenge steuern würden.
Es bleibt das Polizeirecht, genauer: eine Anpassung des Präventivgewahrsams an terroristische Bedrohungen. Gefährder in Haft zu nehmen, ist ein rechtsstaatlich heikles Vorgehen, für das Alternativen wie der Einsatz elektronischer Fußfesseln und Meldeauflagen bereitstehen müssen. Der Fall Amri zeigt aber, dass es harte Fälle geben kann, in denen der Staat seinen Schutzauftrag nur mit einer Ingewahrsamnahme hochgefährlicher und hochmobiler Personen erfüllen kann.
Der Autor Professor Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität zu Köln und Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafrechtstheorie und Strafrechtsvergleichung.
* Berichtigung der Redaktion am 04.01.2017: Hier stand zunächst, dass der Innenminister der SPD angehöre.
Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, Terroranschlag vom Breitscheidplatz: . In: Legal Tribune Online, 03.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21657 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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