Der Supreme Court in London hat den Plan der Regierung gestoppt, Asylverfahren nach Afrika auszulagern. Daniel Thym erklärt, warum das Urteil politisch brisant ist, juristisch jedoch unspektakulär – und wichtige Fragen gar nicht behandelt.
Pro Asyl feierte das Urteil als Sieg für die Menschenrechte und forderte, "von Auslagerungsphantasien ab(zu)lassen". Der Sonderbeauftragte der Bundesregierung gibt sich stoisch. Es sei weiterhin "wünschenswert", Asylverfahren in Drittstaaten durchzuführen. Alles weitere will die Bundesregierung nach den Wünschen der Ministerpräsidentenkonferenz erst einmal prüfen. Das Urteil wird sie genau lesen, dabei jedoch nicht viel schlauer werden. Spektakulär Neues sagt der Supreme Court nicht und lässt noch dazu viele Fragen offen.
Das Gericht in London hatte am Mittwoch den Plan der britischen Regierung verworfen, Asylverfahren nach Ruanda auszulagern. London hatte dazu im Frühjahr 2022 mit der Regierung in Kigali ein Abkommen abgeschlossen. Danach wollte Großbritannien illegal eingereiste Menschen nach Ruanda verbringen können. Erst dort sollten die Menschen einen Asylantrag stellen können, den die afrikanischen Behörden prüfen sollten. Würde das Recht auf Asyl bestehen, sollen die Menschen in Ruanda bleiben können. Eine Rückkehr nach Großbritannien war nicht vorgesehen.
Refoulementverbot als Kern des Asylrechts
Herzstück der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist das sogenannte Refoulementverbot, wonach die Staaten eine Person nicht in ein Land zurückschicken (Französisch: refouler) dürfen, wo eine Verfolgung, Folter oder sonstige unmenschliche Behandlungen drohen. Diese Garantie überträgt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg seit dreißig Jahren auf das Folterverbot gemäß Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Dabei sind die Straßburger Urteile großzügig und gehen über die GFK hinaus.
Damit ist zugleich gesagt, dass die GFK und die EMRK es prinzipiell erlauben, eine Person nach Ruanda zu überstellen, wenn diese in Großbritannien einen Asylantrag stellt. Das Urteil betrifft nicht die Grundsatzfrage, "ob" die Staaten theoretisch Asylverfahren auslagern dürfen. Das dürfen sie! Stattdessen konzentriert sich der Supreme Court darauf, "wie" die Auslagerung konkret stattfindet und ob Ruanda sicher ist. Das Ergebnis ist ein klares: "So nicht"! Die britische Regierung durfte sich nicht auf abstrakte Zusagen verlassen, weil Berichte, nicht zuletzt des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), eindrücklich darlegen, dass die bisherige Asylpraxis in Ruanda defizitär ist.
Freilich verschließt der Oberste Gerichtshof die Türe nicht ganz. Was noch nicht ist, kann künftig werden. Es ist immer eine Prognoseentscheidung, ob das Refoulementverbot verletzt zu werden droht oder nicht. Wenn die Regierung die Zweifel widerlegen möchte, muss sie belastbare Garantien präsentieren (Rn. 101-105). Die britische Regierung hat bereits angekündigt, eben dies anzugehen. Offenbar plant sie eine zweite Verhandlungsrunde.
Was der Supreme Court nicht diskutiert
Das aktuelle Urteil betrifft nur die Frage, ob das ruandische Asylsystem zuverlässig genug ist, damit schutzberechtigte Personen nicht in Drittstaaten abgeschoben werden, wo ihnen Verfolgung droht. "Kettenrückführung" nennen Experten das traditionell. Damit schweigt das Urteil dazu, ob es andere Gründe gibt, warum Ruanda nicht die notwendige Sicherheit bietet. Die fünf höchstrichterlichen Lords konzentrierten sich auf den Hauptkritikpunkt.
Das Berufungsgericht hatte eine zweite Frage kontrovers diskutiert, ob die Lebensbedingungen in Ruanda den menschenrechtlichen Mindeststandards genügen: wohl ja, meinte damals die Richtermehrheit (Rn. 287-297). Speziell deutsche Gerichte prüfen diese Standards traditionell streng, wenn sie ganz konkret etwa jungen afghanischen Männern, denen keine Verfolgung durch die Taliban droht, regelmäßig Abschiebungsschutz zusprechen, weil die Lebensbedingungen in Kabul zu schlecht sind. Das ist jedoch nicht alles. Für die Rückführung von Asylantragstellenden in sichere Drittstaaten fordern einige zusätzlich Bildungs- und Arbeitsmarktzugang.
Hinzu kommen Fragestellungen, die der Supreme Court nicht behandelte. Reichen zuverlässige Asylverfahren oder braucht es eine Beschwerdemöglichkeit? Wenn ja, vor Gericht oder unabhängigen Kontrollinstanzen? Inwiefern dürfen Antragsteller in Drittstaaten inhaftiert werden? Solche Fragen stünden alsbald im Zentrum, wenn nach dem Modell einiger SPD-Abgeordneten künftig UNHCR für Deutschland im Ausland die Asylverfahren durchführen sollte.
"Verbindungskriterium" gilt für Großbritannien nicht
Einen Kritikpunkt griff der Oberste Gerichtshof auf – und bestätigte die Position der Regierung. Das "Verbindungskriterium" gilt für Großbritannien nicht mehr, weil die maßgebliche Vorschrift der Asylverfahrensrichtlinie seit dem Brexit nicht mehr anwendbar ist.
Das zeigt indirekt, dass die EU-Mitgliedstaaten strengeren Standards unterliegen. Denn nach diesem Kriterium aus der in der EU geltenden Asylverfahrensrichtlinie dürfen Asylantragsteller nur in "sichere Drittstaaten" zurückgeführt werden, zu denen sie eine hinreichende "Verbindung" besitzen (Art. 45 Abs. 2 Buchst. a). Ein bloßer Transit reicht nach dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) dafür nicht aus (EuGH, Urt. v. 19.03.2020, Az. C‑564/18, Rn. 44-50). Derzeit scheidet das Ruanda-Modell für Deutschland also evident aus, weil die meisten, die Asyl beantragen, keinerlei Verbindung in das afrikanische Land haben. Nur Dänemark hat mehr Spielraum, weil es seit 30 Jahren ein Opt-out von den Asylrichtlinien hat.
Völkerrechtlich verbindlich ist das Verbindungskriterium nicht, sodass die EU es abschaffen könnte. Nicht zuletzt die Bundesregierung besteht in Brüssel jedoch darauf, dass das Kriterium obligatorisch bleibt.
Nach dem Verhandlungsstand soll nur klargestellt werden, dass ein Transit ausreicht (Art. 45 Abs. 2b Buchst. b, Erwägung 37). Wenn die Ampel darauf beharrt, kann sie den Prüfauftrag eigentlich gleich einstellen. Deutschland dürfte Asylverfahren in der Zukunft selbst dann nicht nach Serbien überstellen, wenn eine Person über Bosnien einreiste.
Georgia Melloni verfolgt einen anderen Plan
An den EU-Außengrenzen gibt es eine juristische Hintertüre, die der italienische "Albanien-Plan" nutzen will. Von italienischen Staatschiffen gerettete Schiffbrüchige sollen künftig in zwei Aufnahmezentren in Albanien gebracht werden. Anders als beim britischen Ruanda-Modell will Italien die externen Asylverfahren dort selbst durchführen. Damit hat es die italienische Regierung in der Hand, ob die Verfahren die notwendige Sicherheit bieten. Ob das der Fall sein wird oder nicht, kann man im Vorfeld schlecht beurteilen. Es kommt auf die Praxis an.
Das Verbindungskriterium umgeht die Regierung dadurch, dass das Albanien-Modell nur diejenigen erfasst, die auf Hoher See gerettet werden. Dort gelten auf Staatsschiffen zwar die Menschenrechte, sodass Italien die notwendige Sicherheit garantieren muss – nicht jedoch das einfachgesetzliche Verbindungskriterium der Asylverfahrensrichtlinie. Diese setzt nämlich einen Asylantrag voraus, den man erst in den Hoheitsgewässern stellen kann, Art. 3 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie.
Damit realisiert die italienische Ministerpräsidentin Georgia Melloni einen Plan, den ähnlich bereits Angela Merkel und die Staats- und Regierungschefs im Juni 2018 forciert hatten. Damals wollte der Europäische Rat sogenannte "Ausschiffungsplattformen" in EU-Nachbarländern errichten, wozu sich dann jedoch kein Drittstaat bereitfand. Selbst UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) wollten damals kooperieren. Georgia Melloni macht nun den Alleingang.
Erfolgreiche Umsetzung keineswegs garantiert
Der Erfolg wird nicht nur davon abhängen, ob Italien verlässliche Asylverfahren hinbekommt und adäquate Lebensbedingungen garantiert. Alle Drittstaatsmodelle beruhen auf der Annahme, dass es ausreicht, einige wenige Personen zurückzuführen, woraufhin die Zugangszahlen automatisch zurückgehen. Ob das passiert, steht nicht fest. So betraf das australische Drittstaatsmodell nie viel mehr als tausend Personen pro Jahr. Für Europa sind das "Peanuts".
Italien zum Beispiel hat mit Albanien nur 3000 Plätze vereinbart. Nun landen jedoch allein in Italien allein in einer Woche bisweilen mehr als dreitausend Menschen an. Außerdem werden viele Personen von privaten Schiffen oder NGOs gerettet; diese werden nicht nach Albanien verbracht. Es könnte sich also erweisen, dass die Zentren schnell überfüllt sind und trotzdem noch Menschen in Italien landen. Dann wäre die scheinbar perfekte Lösung entzaubert.
Hinzu kommen enorme logistische Hindernisse und sonstige Herausforderungen. So schlagen die bereits genannten SPD-Politiker dem Vernehmen nach vor, schutzberechtigte Personen nach einem in sicheren Drittstaaten durchgeführten Asylverfahren legal in die EU auszufliegen. Das setzt nicht nur eine quotenbasierte Verteilung innerhalb der EU voraus, deren Annahme illusorisch sein dürfte, soweit nicht Deutschland im Zweifel die meisten übernimmt. Außerdem könnte die Einreisegarantie sogar dazu führen, dass mehr Menschen sich aufmachen. Ein Asylantrag wäre künftig so möglich, ohne viel Geld für Schlepper ausgeben und eine lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer riskieren zu müssen.
Großbritannien kann die Menschenrechte aushebeln – Deutschland nicht
In der ersten Reaktion deutet der britische Premierminister Rishi Sunak eine doppelte Strategie an. Einerseits möchte die Regierung mit Ruanda nachverhandeln, um die menschenrechtlichen Mindeststandards zu erfüllen. Andererseits droht der britische Premierminister unverhohlen mit einem Parlamentsgesetz, das die Gerichtsentscheidung aushebelt. Das ginge theoretisch, weil Großbritannien keine geschriebene Verfassung hat. Innerstaatlich gelten die Menschenrechte nach der traditionellen Lesart "nur" aufgrund eines Parlamentsgesetzes, dem Human Rights Act von 1999. Durch ein spezielleres und späteres Gesetz könnte die Regierung dies aushebeln.
Deutschland und die anderen EU-Staaten haben diese Option nicht. Meistens gibt es dort geschriebene Verfassungen und Verfassungsgerichte, die der EMRK innerstaatlich zum Durchbruch verhelfen. Hinzu kommen die Verpflichtungen aufgrund des EU-Rechts unter Einschluss der Grundrechtecharta der Europäischen Union, die der EuGH im Einklang mit der EMRK auslegt. Diese Vorgaben muss auch der EU-Gesetzgeber beachten, wenn dieser die Verfahrensrichtlinie ändert.
In Kontinentaleuropa gilt damit dasjenige, was die britischen Gerichte rhetorisch andeuten, nach herkömmlichem britischen Verfassungsverständnis jedoch nicht umsetzen könnten: Die Genfer Flüchtlingskonvention, EMRK, Anti-Folterkonvention, EU-Grundrechtecharta und in Deutschland das Grundgesetz stabilisieren sich gegenseitig und verhindern damit faktisch, dass die Regierungen die Auslegung der abstrakten Menschenrechte durch die Gerichte korrigieren.
Prof. Dr. Daniel Thym ist Professor an der Universität Konstanz und derzeit Senior Mercator Fellow an der Universität von Kalifornien in San Diego.
Was folgt aus dem britischen Ruanda-Urteil?: . In: Legal Tribune Online, 16.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53190 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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