Niemand hatte die Absicht, sich rechtswidrig zu verhalten: So lässt sich die Stellungnahme des Regierungspräsidenten Gießen gegenüber dem BVerfG zum juristischen Streit um die Stadthalle Wetzlar zusammenfassen. Weitere Konsequenzen: keine.
Der Regierungspräsident Gießen hat am Freitag seine Stellungnahme zum Verhalten der Stadt Wetzlar an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) übermittelt. Hintergrund ist die Weigerung der Stadt Wetzlar, ihre Stadthalle an die NPD zu vermieten. Die Stadt missachtete auch eine finale Entscheidung des Karlsruher Gerichts (Beschl. v. 24.03.2018, Az. 1 BvQ 18/18), nachdem sie sich schon zuvor diversen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts bzw. des Verwaltungsgerichtshofs Kassel entzogen hatte und Zwangsgeld nicht nur angedroht, sondern auch festgesetzt worden war. Alle Instanzen hatten entschieden, dass die Nutzung der Halle dem NPD-Stadtverband durch die Stadt Wetzlar zu gewähren sei.
Das BVerfG zeigte sich daraufhin fassungslos und forderte den zuständigen Regierungspräsidenten, Dr. Christoph Ullrich (CDU), auf, "den Vorfall aufzuklären, notwendige aufsichtsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen und das Gericht unverzüglich davon zu unterrichten", hieß es in der Erklärung des BVerfG. Und weiter: "Der Ministerpräsident, der Innen- und der Justizminister des Landes sowie der Oberbürgermeister der Stadt sind über das Schreiben informiert worden." Andere Möglichkeiten hat das BVerfG nicht.
"Das 'Ob' war nicht das Problem"
Der Regierungspräsident als zuständige Kommunalaufsicht hat den Sachverhalt daraufhin untersuchen lassen. Danach habe die Stadt Wetzlar dem NPD-Stadtverband noch am Tag der geplanten Veranstaltung einen Mietvertrag zur Nutzung der Stadthalle vorgelegt. Der Stadtverband habe jedoch nicht die hierfür üblichen Bedingungen erfüllen können, es sei nicht zum Abschluss des Mietvertrages gekommen.
Das "Ob" des Zugangs zu der Stadthalle habe demnach zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Frage gestanden, sondern vielmehr das "Wie" der Benutzung der öffentlichen Einrichtung. Die üblichen Mietbedingungen, wie etwa die Gewährleistung eines Versicherungsschutzes oder eines Sanitätsdienstes, seien nach Darlegung der Stadt Wetzlar durch den NPD-Stadtverband bis zuletzt nicht erfüllt worden. Deshalb sei der Mietvertrag über die Stadthalle letztlich aus Gründen, die dem potenziellen Mieter zuzurechnen sind, nicht zustande gekommen.
Dies alles sind Vorträge, die mindestens dem Wesen nach bereits bei den Verwaltungsgerichten vorgebracht worden waren, das ergibt sich aus den entsprechenden Entscheidungen sowie Erklärungen des VG Gießen gegenüber LTO. Das hatte seinerzeit erklärt, die NPD habe in einem der Verfahren sehr wohl einen Versicherungsnachweis und ein Sicherheitskonzept vorgelegt.
Wetzlar: Mehr als bloß eine Parteiversammlung
Gegenüber dem Regierungspräsidenten äußerte die Stadt, sie habe aufgrund des nicht nachgewiesenen Versicherungsschutzes und des nicht ausreichend eingeplanten Sanitätsdienstes die Frage gestellt, welche Konsequenzen sich im Fall von veranstaltungsbedingten Sach- und Personenschäden ergeben und wer die möglichen Folgen zu verantworten und zu tragen habe.
Diese Frage habe sich für die Stadt umso dringender gestellt, nachdem der Veranstalter angeblich im Nachhinein offenbarte, nicht lediglich eine Parteiversammlung im üblichen Rahmen abzuhalten, sondern mehrere rechtsradikale Rockbands auftreten zu lassen, zu denen einschlägige Erkenntnisse von Polizei und Verfassungsschutz vorlagen. Damit habe sich der Veranstaltungscharakter von einer reinen politischen Artikulation hin zu einer Musikveranstaltung geändert, die die Anforderungen an die Sicherheit und Unversehrtheit von Personen und im Eigentum der Stadt Wetzlar stehenden Einrichtungsgegenständen deutlich gesteigert habe.
Auch dieser Vortrag war bereits Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Verfahren und hatte den mit dem Fall befassten Gerichten – dem Verwaltungsgericht (VG) Gießen und dem Verwaltungsgerichtshof (VGH) Kassel – nicht ausgereicht, um die Vermietung zu versagen.
Regierungspräsident: Eine Stadt im Dilemma
Der Regierungspräsident teilte dem BVerfG nun mit, aus Sicht der Kommunalaufsicht habe die Stadt Wetzlar den Beschluss des BVerfG nicht willentlich missachtet. Vielmehr hätten sich die handelnden Personen in einem Dilemma befunden. Sie hätten sich zum einen an den rechtlich bindenden Beschluss des BVerfG vom Tag der Veranstaltung halten wollen. Zum anderen habe die Stadt eine berechtigte Sorge um den Schutz der Besucher während der NPD-Veranstaltung mit Blick auf den fehlenden Nachweis einer Haftpflichtversicherung und eines ausreichenden Sanitätsdienstes glaubhaft dargestellt.
Es sei ebenso glaubhaft dargestellt worden, dass es nicht Ansinnen der Stadt Wetzlar war, sich über Entscheidungen der Hessischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und des BVerfG hinwegzusetzen. Offenkundig habe die Stadt Wetzlar situationsbedingt den nach den richterlichen Entscheidungen noch verbleibenden Handlungsspielraum anders eingeschätzt, als er tatsächlich vorhanden gewesen war. Man müsse aber zugunsten der Stadt berücksichtigen, dass sich diese am Tag der geplanten Veranstaltung und unmittelbar nach dem Beschluss des BVerfG erheblich erhöhtem Druck ausgesetzt gesehen habe.
Auch nach einer persönlichen Erörterung mit dem Oberbürgermeister der Stadt gehe das Regierungspräsidium Gießen davon aus, dass richterliche und höchstrichterliche Entscheidungen respektiert und umgesetzt werden.
"Nicht unüblich, dass Staatsorgane den Gerichten nicht folgen"
Professor Dr. Niels Petersen schätzt die Lage gegenüber LTO so ein: "Rechtlich scheint es mir etwas zu einfach zu sein, als Kommunalaufsicht zu diesem Ergebnis zu kommen", so der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Universität Münster. "Faktisch kommt es vor, dass sich Staatsorgane nicht an Entscheidungen des BVerfG halten."
Dazu gehöre etwa das Kruzifix-Urteil, als der Freistaat Bayern versuchte, das Kreuz in öffentlichen Gebäuden zu erhalten. "Das BVerfG ist so weit mit Rechten ausgestattet, dass es sogar den demokratisch legitimierten Gesetzgeber bei verfassungswidrigem Verhalten bremsen kann", so Petersen. Seine faktische Durchsetzungskompetenz sei aber bewusst schwächer ausgestaltet, um die Balance zwischen den Gewalten zu wahren.
Weitere Konsequenzen über die Stellungnahme des Regierungspräsidenten hinaus sind nicht geplant. Gegenüber LTO sagte dessen Pressesprecher, dass der Präsident Verständnis für die Situation der Stadt Wetzlar gehabt habe.
Nach einem Bericht der Wetzlarer Neuen Zeitung liegen zwei Anzeigen der NPD gegen den Oberbürgermeister der Stadt, Manfred Wagner, wegen Verdachts der Nötigung im besonders schweren Fall sowie der Untreue vor.
Tanja Podolski, Regierungspräsident Gießen zum Eklat um Stadthalle Wetzlar: . In: Legal Tribune Online, 13.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28069 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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