In Indien klagt der Rechtsanwalt Colin Gonsalves Menschenrechte ein, in den USA reichen Verbraucher mächtige Sammelklagen ein, in Berlin unterstützen Organisationen Verfahren gegen global agierende Unternehmen. Das Ziel: Die Welt verändern.
Der indische Rechtsanwalt Colin Gonsalves hat kürzlich einen "Alternativen Nobelpreis" erhalten – "für seinen unermüdlichen und innovativen Einsatz vor Gericht, um die grundlegenden Menschenrechte von Indiens marginalisiertesten Bürgern zu schützen", so die Begründung der schwedischen Right Livelihood Award Foundation, die den Preis vergibt.
Gonsalves hat 1989 das Human Rights Law Network gegründet, ein Netzwerk mit 250 Anwälten und Mitarbeitern, das sich in Indien für Klagen im öffentlichen Interesse einsetzt. In einem seiner bekanntesten Fälle erstritt er vor Indiens Obersten Gerichtshof ein in der Verfassung verankertes "Recht auf Nahrung" und setzte damit nicht nur ein kostenfreies Mittagessen für alle Schulkinder durch, sondern auch die Subventionierung von Getreide für 400 Millionen Inder, die unterhalb der Armutsgrenze leben.
Ein Beispiel für ein Phänomen, das man "strategische Prozessführung" nennen kann und das am Freitag in einer Veranstaltung des Forschungsverbunds "Recht im Kontext" an der Humboldt-Universität (HU) in Berlin diskutiert wurde.
Von Brown v. Board of Education zum EZB-Anleihenkauf
Es gibt viele weitere Beispiele für diese Art der Prozessführung, in der es um mehr geht als darum, den Fall zu gewinnen. Darauf weist Moderatorin Gudula Geuther (Deutschlandfunk) zu Beginn der Debatte hin: Angefangen mit der US-amerikanischen National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die sich schon seit Mitte der 1930er Jahre vor Gericht für die Rechte schwarzer Menschen einsetzte und 1954 das berühmte "Brown v. Board of Education"-Urteil des US Supreme Courts erstritt, das das Ende der Rassentrennung an den öffentlichen Schulen bedeutete.
In Deutschland könnte man das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 hinzuzählen, in dem die Karlsruher Richter das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung etablierten, oder auch die Versuche, gegen das Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank vorzugehen.
Was zeichnet strategische Prozessführung aus? "Man verfolgt ein Ziel, das über das bloße Gewinnen dieses Prozesses hinausgeht – etwa, dass man infolgedessen viele weitere Prozess gewinnt oder dass man die Gesetzgebung verändert", so Gerhard Wagner, Professor für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik an der HU.
In den USA sind Anwälte oft die treibende Kraft
Dabei unterscheidet sich die Art und Weise strategischer Prozessführung international stark voneinander – schon deshalb, weil es darauf ankommt, welche Mittel und Wege das jeweilige Prozessrecht zur Verfügung stellt. "Die USA sind ein Extrem, Deutschland ein anderes", sagt Wagner. In den USA sind einzelne Anwälte und Kanzleien die treibende Kraft hinter strategischen Prozessen – auch aufgrund ökonomischer Interessen, denn sie erhalten hohe Provisionen, wenn sie den Prozess gewinnen.
In Deutschland werden kollektive Klagerechte dagegen restriktiv gehandhabt und man setzt, wenn überhaupt, eher auf Verbände und Vereine. Eine der bekanntesten deutschen Institutionen in diesem Bereich ist das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das zusammen mit Anwälten und Partnerorganisationen weltweit zahlreiche Verfahren betreibt.
Miriam Saage-Maaß leitet am ECCHR das Programm "Wirtschaft und Menschenrechte". Sie erklärt: "Wir arbeiten immer an konkreten Fällen mit Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen und entwickeln gemeinsam mit ihnen eine Strategie, wo wir intervenieren, vor deutschen Gerichten oder auch in anderen Ländern." Dabei geht es etwa um Fälle, in denen europäische Unternehmen, direkt oder über Tochterunternehmen, in Menschenrechtsverletzungen im Ausland involviert sind.
Annelie Kaufmann, Strategische Prozessführung: . In: Legal Tribune Online, 04.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24815 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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