Stralsund will für Frieden sorgen in der Ukraine. Die Bürgerschaft sieht die Verantwortung für den fortdauernden Krieg auch bei der Bundesregierung. Das ist nicht nur politisch skurril, sondern auch kommunalrechtswidrig.
Stralsund will sich als Ort für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine anbieten. Mit einem skurrilen Beschluss sorgte die Bürgerschaft der Hansestadt Ende letzter Woche für ein wenig Furore. Mit Stimmen aus CDU/FDP, Linke/SPD, dem Bündnis "Bürger für Stralsund" sowie der Grünen und der AfD beauftragten die gewählten Gemeindevertreter in ihrer Sitzung vom 20. Oktober mit großer Mehrheit den Oberbürgermeister, "die Bundesregierung zu informieren, dass das Stralsunder Rathaus für sofortige Friedensgespräche zur Verfügung steht".
Die kommunalpolitische Entscheidung fällt in eine Zeit, da die russischen Invasoren mit Marschflugkörpern und iranischen Drohnen zivile Objekte in ukrainischen Großstädten angreifen, darunter insbesondere Einrichtungen der kritischen Infrastruktur. Nichts deutet auf eine ernstzunehmende Verhandlungsbereitschaft Putins hin: Das weitreichende Verhandlungsangebot der ukrainischen Regierung vom Frühjahr – politische Neutralität, Sonderstatus für die Regionen Krim, Donezk und Luhansk – hatte dem Kreml-Diktator offenkundig nicht genügt. Nach wie vor ist nicht zu erkennen, dass die russische Führung von ihren Kriegszielen abrückt, die Regierung der Ukraine abzusetzen, ihre Eigenstaatlichkeit zu zerschlagen und sich ihr Territorium einzuverleiben. Hinzu kommen die vielfältig belegten Kriegsverbrechen sowie die sich mehrenden Hinweise, dass Russland in der Ukraine einen Völkermord verübt.
Im Stralsunder Rathaus sieht man die Verantwortlichkeit jedoch woanders: "Durch die Politik der jetzigen Bundesregierung haben die Menschen in unserem Land Angst vor einem 3. Weltkrieg", heißt es in der ursprünglichen Beschlussvorlage – deutsche Befindlichkeiten sind demnach die wesentliche Triebfeder für den Wunsch nach Friedensverhandlungen. Nach der Debatte in der Bürgerschaft einigte man sich immerhin darauf, dem "Überfall Russlands auf die Ukraine" zumindest eine Art Mitschuld neben der Bundespolitik zu geben. Der drohende Weltkrieg könne aus Sicht der Gemeindevertretung "sehr schnell zu einer nuklearen Katastrophe führen", er müsse daher "endlich auf diplomatischem Wege beendet werden".
Stralsund macht historische Berufung zum Frieden geltend
Zu großer historischer Tat sieht man sich in Stralsund auch deshalb berufen, da die Stadt "eine große Historie des Schaffens von Frieden" habe. Sowohl mit dem Frieden von Stralsund, der 1370 den Zweiten Waldemarkrieg zwischen Dänemark und der Hanse beendete, als auch mit den Abrüstungsverhandlungen, die Olof Palme 1984 in der Stadt "zur Schaffung eines atomwaffenfreien Sperrgürtels in Mitteleuropa" geführt habe, will sich der Beschluss auf historische Vorbilder berufen. Dass aber ein breites Bündnis demokratischer Parteien, darunter sämtliche der in Berlin regierenden Ampelkoalition, mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigt, ist ebenso erstaunlich wie die prominente Teilnahme des CDU-Oberbürgermeisters Alexander Badrow an einer Kundgebung des Bündnisses "Bürger für Stralsund" am Vortag. Von Seiten des Stadtoberhaupts unwidersprochen wurde dort der "sofortige Rücktritt der Regierung in Berlin" gefordert, während der russische Großangriff zum Selbstverteidigungsakt pervertiert und dem Westen die Schuld am andauernden Krieg gegeben wurde. Es fällt schwer, diese Positionen in einer Linie mit der christdemokratischen Politik Konrad Adenauers und Helmut Kohls zu sehen.
Die Vorgänge in Stralsund sind aber nicht nur politisch, sondern auch kommunalverfassungsrechtlich brisant. Vieles spricht dafür, dass der Beschluss der Bürgerschaft rechtswidrig und von der Kommunalaufsicht zu beanstanden ist. Im Ausgangspunkt ist für Stralsund wie für jede andere Gemeinde in Deutschland die kommunale Selbstverwaltung verfassungsrechtlich garantiert. Darunter ist nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) und Art. 72 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung Mecklenburg-Vorpommerns das Recht zu verstehen, "alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln". Dementsprechend sind die Kommunen nicht lediglich unselbständige Organe des staatlichen Verwaltungsaufbaus (wie etwa in der ehemaligen DDR), sondern Gebietskörperschaften mit eigener Rechtspersönlichkeit. Auch nach der Kommunalverfassung von Mecklenburg-Vorpommern (KV M-V) ist die gewählte Gemeindevertretung (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) das "oberste Willensbildungs- und Beschlussorgan der Gemeinde" (§ 22 Abs. 1 Satz 1 KV M-V), die sich in der Hansestadt Stralsund aus Traditionsgründen Bürgerschaft nennen darf (§ 22 Abs. 1 Satz 3 KV M-V).
Angebot für Friedensverhandlungen ist kommunalrechtswidrig
Die Bürgerschaft ist für alle wichtigen Angelegenheiten der Stadt Stralsund zuständig und überwacht die Durchführung ihrer Entscheidungen, soweit nicht durch Gesetz, Hauptsatzung oder Bürgerschaftsbeschluss eine Übertragung auf den Hauptausschuss oder den Oberbürgermeister stattgefunden hat (§ 22 Abs. 2 Satz 1 KV M-V). Wichtig sind nach § 22 Abs. 2 Satz 2 KV M-V neben den gesetzlich besonders zugewiesenen Aufgaben solche Angelegenheiten, die aufgrund ihrer politischen Bedeutung, ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen oder als Grundlage für Einzelentscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung für die Stadt sind. Die originäre Verbandszuständigkeit der Gemeinden für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft hat aber ihre Grenzen, die zugleich die Befassungskompetenz der Gemeindevertretung beschränken. Denn hierzu gehören nach ständiger (Verfassungsgerichts-)Rechtsprechung nur diejenigen "Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben".
Die Gemeinden und ihre kommunalen Volksvertretungen haben somit kein allgemeinpolitisches Mandat. Das gilt besonders für Angelegenheiten, die nach der Kompetenzordnung des GG den Ländern oder dem Bund vorbehalten sind. So ist insbesondere die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten nach Art. 32 Abs. 1 GG die alleinige Sache des Bundes. Das Angebot der Stadt Stralsund, Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation abzuhalten, wird man hierunter ohne Weiteres zählen müssen. Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 14. Dezember 1990 – 7 C 37.89) auch nicht darauf an, ob Beschlüsse auf Themenfeldern jenseits der örtlichen Gemeinschaft in irgendeiner Form bindenden Entscheidungscharakter haben. Schon die bloße Befassung damit ist kommunalrechtswidrig.
Das für die Kommunalaufsicht über die Stadt Stralsund zuständige Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern (§ 79 Abs. 1 KV M-V) kann den Beschluss daher beanstanden und verlangen, dass die Stadt Stralsund ihn binnen einer angemessenen Frist aufhebt (§ 81 Abs. 1 Satz 1 KV M-V). Kommt die Stadt dem Beanstandungsverlangen nicht fristgemäß nach, so kann die Aufsichtsbehörde den Beschluss aufheben (§ 81 Abs. 2 Satz 1 KV M-V). Die Entscheidung über diese kommunalaufsichtlichen Maßnahmen trifft das Innenministerium zwar nach pflichtgemäßem Ermessen. Vieles spricht aber für ein Einschreiten, will das Land Mecklenburg-Vorpommern nach dem Desaster um Nord Stream 2 und die zwielichtige Klimastiftung nicht weiter seinen Ruf pflegen, mit der russischen Diktatur und ihren Freunden allzu konziliant zu verfahren.
Denn die Steilvorlage aus Stralsund hat die Russische Föderation bereits dankend angenommen, wie die Ostsee-Zeitung in einem Beitrag vom 24. Oktober zu berichten weiß: "Besonders erfreulich ist, dass dieses Angebot aus Mecklenburg-Vorpommern kommt, das mit Russland durch langjährige Freundschaft verbunden ist", frohlockt es demnach aus der Berliner Botschaft des Moskauer Regimes.
Krieg in der Ukraine: . In: Legal Tribune Online, 25.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49971 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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