Zur Beratungskultur der BGH-Strafsenate: Sowieso nur Teile der Akte verwertbar

von Kay Nehm

27.12.2013

2/2: Keinem Beisitzer wird der Blick in die Akten verwehrt

Im Beschlussverfahren werden keine Akten verteilt. Allein der Vorsitzende und der Berichterstatter lesen die relevanten Unterlagen. Der Senat entscheidet nach herkömmlicher Praxis aller Strafsenate auf Grund eines mündlichen Vortrags des Berichterstatters.

Ob sich die beisitzenden Richter mit dem Vortrag des Berichterstatters begnügen oder aus konkretem rechtlichen Interesse, aus Misstrauen oder aus vermeintlich verfassungsrechtlichen Zwängen selbst lesen wollen, bleibt allein ihnen überlassen. Dass einem Beisitzer jemals der Blick in die Akten verwehrt wurde, ist nicht bekannt. Dagegen sind Nachfragen keineswegs selten. In der Regel pflegt dann der Berichterstatter die betreffenden Passagen aus den Akten herauszusuchen und vorzulesen.

Verzichtet der Senat auf eine Begründung, unterzeichnen die Richter einen Formularbeschluss. Andernfalls fertigt der Berichterstatter einen Beschlussentwurf, der zusammen mit dem Senatsheft zur Unterzeichnung in Umlauf gegeben wird. Hier besteht also eine weitere Gelegenheit, die Akten einzusehen und gegebenenfalls auf eine Nachberatung zu dringen.

Die Revision – ein Rechtsmittel mit begrenzten Möglichkeiten

Gewiss kann man fragen, ob das Procedere eines obersten Bundesgerichts auf das Vertrauen der Beisitzer in die Integrität und Sorgfalt von zwei Senatskollegen gegründet sein sollte. Die Antwort lässt sich nicht allein mit moralischer Entrüstung beiseite schieben. Sie folgt vielmehr aus dem eingeschränkten revisionsrechtlichen Aktenbegriff sowie aus den alternativen außergerichtlichen Kontrollen.

Die Revision ist ein Rechtsmittel mit begrenzten Möglichkeiten. Der BGH befindet grundsätzlich nicht selbst über Schuld und Strafe. Nur wenn eine prozessordnungsgemäße Rüge den Senat überzeugt, dass dem Tatrichter Verfahrensfehler unterlaufen sind oder dass der im Urteil festgestellte Sachverhalt die Verurteilung nicht trägt, besteht die Chance einer erneuten Hauptverhandlung. Es liegt somit in der Systematik des Revisionsrechts, dass das richtig oder falsch der Wahrheitsfindung nur begrenzt zur Disposition steht.

Dieser eingeschränkte Prüfungsmaßstab bildet das entscheidende Kriterium des revisionsrechtlichen Aktenbegriffs. Zwar liegen dem BGH die gesamten Verfahrensakten vor. Die Verwertung des sonstigen Akteninhalts ist dem Senat jedoch selbst dann verwehrt, wenn eine zulässige Verfahrensrüge "die Akten öffnet".

Strafsenate können nicht beliebig vermehrt werden

Angesichts des begrenzten Prüfungsmaßstabes und der erfreulicherweise hohen Kompetenz der Richter sind erfolgreiche Revisionen nicht eben häufig. Selbstverständlich kann sich ein Verurteilter, der das Urteil für falsch hält, trotz geringer Erfolgsaussichten zu einer Rüge veranlasst sehen, weil er die Hoffnung hat, der BGH werde schon etwas finden. Zuweilen verfolgt eine Revision auch nur das Ziel, die Strafhaft hinauszuschieben. Häufig steht daher der Umfang korrekt begründeter Verfahrensrügen und ausgeführter Sachrügen in keinem Verhältnis zum erwarteten Ertrag.

Ob sich die beisitzenden Richter unter diesen Umständen generell der zeitraubenden Lektüre sämtlicher Schriftstücke des Revisionsverfahrens widmen sollten, ist nicht nur eine Frage individueller Berufsauffassung. Strafsenate am BGH können nicht beliebig vermehrt werden. Die Rechtsordnung ist deshalb darauf angewiesen, dass die Richter ihre Arbeitskraft darauf konzentrieren, die Rechtseinheit zu wahren und Einzelfallgerechtigkeit herzustellen.

Kein Gewinn an Rechtssicherheit

Darüber hinaus ist das Vertrauen der Beisitzer in die Redlichkeit des Berichterstatters nicht nur durch die Kontrolle des Vorsitzenden abgesichert. Am Revisionsverfahren sind die verfahrensführende Landesstaatsanwaltschaft mit ihrer Gegenerklärung, der Rechtspfleger der Bundesanwaltschaft mit der Vorprüfung der Formalien sowie der Bundesanwalt der Revisionsabteilung und der Rechtsanwalt des Revisionsführers beteiligt.

Die Bundesanwaltschaft geht nahezu ausnahmslos unter Hinweis auf entgegenstehende Rechtsprechung mit eingehender Begründung auf sämtliche Rügen des Revisionsführers ein. Dass dabei auch nur versehentlich gewichtige Argumente unter den Tisch fallen, ist mehr als unwahrscheinlich.

Es verspricht somit keinen Gewinn an Rechtssicherheit und Rechtskultur, ausgerechnet die offensichtlich unbegründeten strafrechtlichen Revisionen in einem obligatorischen aufwändigeren Verfahren bearbeiten und beraten zu lassen. Wer sich mit dem Vortrag des Berichterstatters nicht zufrieden geben will, mag künftig selbst lesen. Zu einer Verunsicherung der Bevölkerung und zu Vorwürfen gegen Richterkollegen besteht jedenfalls kein Anlass.

Der Autor Kay Nehm ist Generalbundesanwalt a.D. sowie ehemaliger Richter des Bundesgerichtshofs.

Zitiervorschlag

Zur Beratungskultur der BGH-Strafsenate: . In: Legal Tribune Online, 27.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10433 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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