Die Maghreb-Staaten u.a. sollen als "sichere Herkunftsstaaten" eingestuft werden. Für Menschen aus diesen Ländern hat das weitreichende Auswirkungen auf Bleibechancen, Rechtsschutz und Unterbringung. Pia Storf gibt einen Überblick.
Ist Algerien ein sicheres Land – so sicher, dass alle dort leben können, ohne schwerwiegende Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte zu befürchten? Geht es nach den Innenminister:innen der deutschen Bundesländer, lautet die Antwort: "Ja". Sie wollen Algerien – ebenso wie Marokko, Tunesien, Georgien, Armenien, Moldau und Indien – auf die Liste sicherer Herkunftsstaaten setzen.
Bei der Erweiterung dieser Liste handelt es sich um ein Vorhaben, das in trotziger Regelmäßigkeit auf die politische Agenda kommt. Sie scheitert ebenso regelmäßig an Zweifeln an der tatsächlichen Sicherheit – zuletzt 2019. Dieses Mal könnte sie aber Realität werden.
Die Einstufung als sicheres Herkunftsland hat erhebliche Relevanz für die Menschen, die aus diesen Ländern stammen und einen Schutzstatus in Deutschland beantragen. Gegenwärtig als "sicher" klassifiziert sind die EU-Mitgliedstaaten sowie Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien, Ghana und Senegal. Das ergibt sich aus § 29a und Anlage II des Asylgesetzes (AsylG).
Welche Rechtsfolgen die Einordnung als sog. sicherer Herkunftsstaat hat, wer das überhaupt mit welcher Begründung entscheidet und was sich durch die geplante EU-Asylreform ändern könnte, darum geht es im Folgenden.
Die Herkunfts- und die Drittstaaten – worüber reden wir?
Um begrifflichen Verwirrungen vorzubeugen, zunächst der Hinweis: Das Grundgesetz (GG) kennt zwei Kategorien "sicherer" Staaten, nämlich Herkunftsstaaten und Drittstaaten. Die Reformdebatte bezieht sich auf beide. Der Begriff der sog. sicheren Drittstaaten bezieht sich auf den Einreiseweg. Reist eine Person über einen sog. sicheren Drittstaat ein, kann ihr Asylantrag als unzulässig abgewiesen werden. Ist eine Person demgegenüber Staatsangehörige eines sog. sicheren Herkunftsstaats, so gilt die Regelvermutung, dass sie keine Verfolgung befürchten muss – weder staatliche noch nicht-staatliche. Auch dieser Asylantrag wird in aller Regel abgewiesen – als "offensichtlich unbegründet".
Ein Blick z.B. nach Algerien zeigt, wie kontrafaktisch diese Vermutung für bestimmte Personengruppen ist. Paradigmatisch ist der LSBTI-Bereich. Übereinstimmend berichten etwa das Auswärtige Amt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und Human Rights Watch, dass Homosexualität in Algerien kriminalisiert ist, LSBTI Personen behördliche Übergriffe fürchten müssen und staatliche Institutionen keinen Schutz vor Verfolgung durch nicht-staatliche Akteur:innen bieten.
Um die Regelvermutung als "sicher" zu widerlegen, müssen die Antragsteller:innen nachweisen, dass ihnen "abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische Verfolgung droht", § 29a Asylgesetz (AsylG). Für Antragsteller:innen bedeutet diese Beweislastverteilung, dass sie die Gewalt und ihre Schutzlosigkeit besonders detailliert und individualisiert nachweisen müssen – auch bei gruppenbezogenen Gefahren. Fehlende anwaltliche Unterstützung fällt dabei besonders ins Gewicht, z.B. wenn Personen nicht wissen, dass queerfeindliche Verfolgung ein anerkannter Fluchtgrund ist, und entsprechende Gewalterfahrungen nicht in der Anhörung benennen können. Die Regelungsarchitektur sog. sicherer Herkunftsstaaten ist so besonders anfällig für Rechtsschutzlücken.
Personen aus "sicheren Herkunftsstaaten" müssen bis zum Ende ihres Asylverfahrens in Erstaufnahmeeinrichtungen wohnen (§ 47 Abs. 1a AsylG). Diese Wohnpflicht geht mit zahlreichen weiteren Grundrechtsverkürzungen einher: Wer dort wohnt, erhält etwa Sozialleistungen insbesondere als Sachleistung, muss mitunter unangekündigte Zimmerkontrollen durch private Sicherheitsdienste ertragen und Kinder dürfen in einigen Bundesländern nicht regulär in die Schule gehen.
Für LSBTI Personen ist die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen oft mit Gewalterfahrungen verbunden und trotz staatlicher Schutzpflicht gibt es keine bundesweit verbindlichen Mindeststandards. Hinzu kommt ein Beschäftigungsverbot – sowohl während des Asylverfahrens (§ 61 Abs. 2 Satz 4 AsylG) als auch mit einem Duldungsstatus (§ 60a Abs. 6 Aufenthaltsgesetz).
Nur Eilrechtsschutz gegen die Abschiebung
Zudem gelten besondere Verfahrens- und Rechtsschutzverkürzungen: Das BAMF kann über Anträge besonders schnell entscheiden – und zwar innerhalb einer Woche (§ 30a AsylG). In der Praxis dauern behördliche Verfahren für Antragsteller:innen aus "sicheren Herkunftsstaaten" jedoch ähnlich lang wie andere Verfahren.
Die wesentlichen Verfahrensverkürzungen beginnen mit der Ablehnung des Schutzgesuchs. Anträge von Personen aus sog. Sicheren Herkunftsstaaten werden grundsätzlich als offensichtlich unbegründet abgelehnt (§29a AsylG). Damit verkürzen sich die Fristen für die Ausreise (§ 36 Abs. 1 AsylG) und Klageerhebung (§36 Abs. 3 AsylG) auf eine Woche. Eine Klage hat regelmäßig keine aufschiebende Wirkung (§ 36 Abs. 3 AsylG).
Das bedeutet also normalerweise: Wer aus Algerien einreist und in Deutschland einen Asylantrag stellt, bekommt eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet und muss eine Woche später das Land verlassen. Eine dagegen erhobene Klage ändert daran nichts – hat sie Erfolg, bringt der antragstellenden Person das unter Umständen nichts mehr, weil sie längst abgeschoben ist, kein Geld hat, die Flucht ein zweites Mal anzutreten, und wieder der Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist. Das ist insbesondere wichtig, weil behördliche Ablehnungen einer Klage oft nicht standhalten – 2021 bekam mehr als ein Drittel der abgelehnten Schutzsuchenden vor Gericht doch noch Recht.
Der einzige Ausweg, um nicht direkt abgeschoben zu werden, besteht im Eilrechtsschutz. Dafür müssen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen, z.B. an der "Offensichtlichkeit" der Unbegründetheit.
Wer entscheidet, ob ein Staat "sicher" ist?
Die Einstufung eines Herkunftslandes als "sicher" setzt gem. Art. 16a Abs. 3 GG voraus, dass aufgrund von Rechtslage, Rechtsanwendung und allgemeiner politischer Verhältnisse als gewährleistet erscheint, dass keine Verfolgung stattfindet – und zwar landesweit und für keine Bevölkerungsgruppe (BVerfG, Urt. v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93, Rd. 85).
Höher sind die europarechtlichen Anforderungen: So darf weder Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts drohen, Art. 37 i.V.m. Anhang I Art. 2 Richtlinie 2013/32/EU (AsylverfahrensRL).
Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats ein Land als sicher einstufen.
In den aktuellen Debatten – sowohl national als auch bei den EU-Asylreformplänen – bilden niedrige Anerkennungsquoten einen Anknüpfungspunkt für die Forderung der Einstufung weiterer Staaten als sicher. Diese sollen aber nach der Entscheidung des BVerfG (Urt. v. 14.05.1996, Az. 2 BvR 1507/93) lediglich Indizwirkung entfalten. Im Übrigen verwies das Gericht vor allem auf den Einschätzungs- und Wertungsspielraum des Gesetzgebers.
Untersuchungen der divergierenden Anerkennungspraxen innerhalb der EU zeigen, dass die Zuerkennung asylrechtlichen Schutzes stärker von individuellen Entscheider:innen abhängt als von objektiven Kriterien. Dabei haben fehlerhaft ablehnende Entscheidungen über internationalen Schutz dramatische Folgen.
Individueller Schutz tritt hinter Pauschalbetrachtung zurück
Neben den national festgelegten "sicheren Herkunftsstaaten" könnten über Art. 36 der AsylverfahrensRL auch auf europäischer Ebene eine gemeinsame EU-Liste mit sog. sicheren Herkunftsstaaten aufgesetzt werden. Davon wurde jedoch – trotz eines entsprechenden Kommissionsvorschlags – bislang kein Gebrauch gemacht, eine solche Liste ist auch nicht Teil der aktuellen Reformpläne.
Stattdessen sollen Personen aus Herkunftsstaaten mit einer EU-weiten Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent Asylanträge in "Grenzverfahren" stellen – ein Vorhaben, das Kritiker als "Ausverkauf der Menschenrechte" bezeichnen. Anders als bei den sog. sicheren Herkunftsstaaten sind niedrige Anerkennungsquoten dann nicht nur Indiz, sondern maßgeblicher Faktor für die Zuordnung in Grenzverfahren.
Das Konzept der sog. sicheren Herkunftsstaaten birgt also wesentliche Gefahren für den Asylrechtsschutz. Dabei widerspricht es dem asylrechtlichen Einzelfallgrundsatz, dass individuelle Schutzbedarfe hinter eine pauschalisierende Betrachtung zurücktreten, die in überhöhten Beweisanforderungen münden können.
Wissenschaftler:innen und Verbände kritisieren zudem seit Jahren, dass die Lage marginalisierter Gruppen bei der Einstufung nicht genügend Berücksichtigung findet. So ist etwa die Lage von LSBTI Personen sowohl in den bereits als „sicher“ eingestuften Ghana und Senegal, als auch in den aktuell diskutierten Maghreb-Staaten unsicher. Ähnliche Bedenken gibt es für die Sicherheit von Rom:nja in den Westbalkanstaaten und Moldau oder von Journalist:innen in Georgien.
Kurzgefasst: Wenn ein Land als sicher eingestuft werden soll, dann muss es sicher sein – für alle.
Die Autorin Pia Lotta Storf ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Nora Markard am Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der WWU in Münster.
Innenminister wollen Liste erweitern: . In: Legal Tribune Online, 17.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52261 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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