Viele in Deutschland geborene Kinder von Ausländern müssen sich mit der Volljährigkeit für eine Staatsbürgerschaft entscheiden. Tun sie das nicht, verlieren sie automatisch die deutsche. Die Berliner Anwältin Seyran Ateş hat ihren türkischen Pass freiwillig aufgegeben. Im LTO-Interview erklärt sie, warum sie die doppelte Staatsbürgerschaft heute ablehnt und im Entscheidungszwang eine Chance sieht.
LTO: Sie haben Ihre türkische Staatsbürgerschaft, die Sie neben der deutschen hatten, freiwillig aufgegeben. Warum?
Ateş: Ich wollte zu einer Lesung in die Türkei reisen und zwar mit Personenschützern vom Landeskriminalamt (LKA), weil ich auch aus der Türkei Morddrohungen erhalten hatte. Die Türkei hat den Beamten aber nicht erlaubt, mich bewaffnet zu begleiten, mit der Begründung, dass ich auch türkische Staatsbürgerin bin.
Das hat mich dazu gebracht, neu darüber nachzudenken, wie sinnvoll es ist eine doppelte Staatsangehörigkeit zu haben, wenn man in zwei politisch so verschiedenen Systemen lebt. Ich kam zu dem Schluss, dass es für mich eher ein Fluch als ein Segen war. Hätte ich nur einen deutschen Pass gehabt, dann hätten die Türken eine Begleitung durch bewaffnete LKA-Beamte wahrscheinlich eher erlaubt.
Bevor Deutschland die doppelte Staatsangehörigkeit einführt, sollte es mit der Türkei vereinbaren, dass das eine Land jeweils in dem anderen miteinschreiten darf, um seine Staatsbürger zu schützen. In meinem Fall hätten die Türken also die Entscheidung der Deutschen, mich mit Waffen zu begleiten und zu schützen, akzeptieren sollen. Die Türkei hätte anerkennen sollen, dass Deutschland Menschenrechtlerinnen wie mich, die bedroht werden, schützt.
LTO: Eine solche Vereinbarung sollte also die Voraussetzung für eine umfassende Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit sein?
Ateş: Absolut. Die Länder müssten miteinander ausmachen, was in Konfliktsituationen passiert, in denen sich Personen mit zwei Staatbürgerschaften in dem einem Land befinden und sich von dem anderen Schutz wünschen.
LTO: Würden Sie sagen, dass Sie ganz generell gegen die doppelte Staatsangehörigkeit sind, solange es eine solche Vereinbarung nicht gibt?
Ateş: Solange es das nicht gibt, bin ich dagegen. Ich denke, zwei Staatbürgerschaften bringen den meisten Menschen eher Nach- als Vorteile. Ich habe im Vorfeld meiner Entscheidung mit vielen Leuten geredet und mir wurde sowohl von den Botschaften als auch von den einzelnen Menschen, die die doppelte Staatsangehörigkeit haben, erzählt, dass ihnen Ähnliches widerfahren ist. Die deutschen Botschaften oder Konsulate konnten oder durften nicht einschreiten, um Deutschtürken zu helfen. Das hat mich bestätigt in meiner neuen Ansicht über die doppelte Staatsangehörigkeit, die ich bisher, ohne das überhaupt so differenziert hinterfragt zu haben, ja konsequent bejaht hatte.
"Ich dachte, man sollte auch drei oder vier Pässe haben können"
LTO: Was waren vorher Ihre Gründe für die doppelte Staatsbürgerschaft?
Ateş: Die waren sehr viel offensichtlicher und vordergründiger. Ich dachte, dass Menschen doch durchaus das Recht haben sollten, sich etwa aufgrund der Sprache oder ihrer Herkunft zu mehreren Ländern zugehörig zu fühlen. Gerade solche, die in einem Land geboren und in einem anderen aufgewachsen sind. Und das sollten sie auch auf ihrem Pass niederschreiben können lassen. Und zwar nicht nur eine Staatsbürgerschaft, sondern im Prinzip auch eine dritte oder vierte.
Jetzt denke ich, Menschen, die sich für eine doppelte Staatsbürgerschaft entscheiden, sollten wirklich aufpassen, ob sie damit tatsächlich ein Privileg in den Händen halten oder sich nicht im Grunde genommen einen Nachteil erstritten haben.
LTO: Ihre Gründe dafür, die türkische Staatsbürgerschaft aufzugeben, sind ja sehr praktischer Natur. Hätten Sie diese Entscheidung auch aus der bloßen theoretischen Überlegung heraus getroffen, dass in der Türkei nicht dasselbe Maß an Rechtsstaatlichkeit gewährt wird?
Ateş: Theoretisch hatte ich die doppelte Staatsbürgerschaft ja seinerzeit bejaht und bin wieder in die türkische eingetreten, nachdem ich in den 80ern meinen türkischen Pass abgeben musste, um den deutschen zu bekommen. In den 90ern konnte ich dann wieder beide Staatsangehörigkeiten annehmen. Die politischen Umstände waren aber damals in der Türkei ja nicht besser als heute. Nun habe ich praktisch erlebt, was ich mir vorher in der Theorie nur überlegt hatte. Danach sieht man die Dinge doch anders und fragt sich, ob die zwei Pässe wirklich so ein Privileg sind.
Seyran Ateş zur doppelten Staatsangehörigkeit: . In: Legal Tribune Online, 18.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8345 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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