Die "Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker" sind testweise in Kraft getreten. Sie enthalten Definitionen des Missbrauchs, Regeln zum Ermittlungsverfahren und die Einbindung der Staatsanwaltschaft. Prof. Dr. Manfred Baldus über die Regelungen und ihre Bedeutung für den aktuellen Streit um Schmerzensgelder für die Geschädigten.
Die gesamtkirchliche Gesetzgebung der katholischen Kirche ist durch die am 15. Juli 2010 verkündete Neufassung der Normen über schwerwiegende Straftaten zum Abschluss gelangt (siehe Teil 4 unserer Serie zum Kirchenstrafrecht). Nun wurde auch im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, das heißt mit Geltung für Deutschland, zum 1. September 2010 eine Fortschreibung der "Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter" ad experimentum, also testweise für drei Jahre in Kraft gesetzt.
Da als gesichert gelten kann, dass die Behandlung der Missbrauchsdelinquenz ein allgemeines, nicht auf Kirchen, Internate und Schulen eingrenzbares gesellschaftliches Problem darstellt, ist auch die kirchliche Gesetzgebung in Deutschland bestrebt, ihre eigenen Normen mit denjenigen des Staates zu verknüpfen. Der Schwerpunkt der neuen Leitlinien liegt auf der Sachaufklärung (Nr. 15 - 36) und der Kriminalitätsopferhilfe (Nr. 37 – 40).
Im Bereich der Sachaufklärung hat offenbar die hohe Akzeptanz, die die zuständigen kirchlichen Ermittlungsstellen bei den Betroffenen finden, auch seelsorgliche Vorbehalte gegen eine frühe Beteiligung der Staatsanwaltschaft weitgehend zerstreut. Die Leitlinien zeichnen sich durch eine klare, mit dem staatlichen Recht abgestimmte Fassung der Tatbestandsmerkmale und teils subtile Handlungsanweisungen für die Praxis aus.
Eindeutige Definitionen: Was ist Missbrauch - und was ebenso schlimm?
Die Ausbreitung des Missbrauchsskandals, seine Behandlung in den Medien und die Wortmeldungen von Betroffenen legten es dringend nahe, zu klären, was unter sexuellem Mißbrauch zu verstehen ist.
Dies geschieht nun in der Form, dass das kirchliche Recht auf das staatliche Strafrecht verweist (Nr. 2: "Diese Leitlinien beziehen sich auf Handlungen nach dem 13. Abschnitt des Strafgesetz-buchs, soweit sie an Minderjährigen begangen werden"); dies sind die §§ 174 – 184g StGB über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
Gemäß Nr. 3 sollen "entsprechend" geahndet werden "Handlungen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit, die im pastoralen oder erzieherischen sowie im betreuenden oder pflegerischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen eine Grenzüberschreitung darstellen". Damit bleibt zum Beispiel die an der christlichen Moral orientierte Tatbestandsfassung des kirchlichen Strafrechts (Verfehlungen gegen das sechste Gebot des Dekalogs, c. 1395 § 2 CIC) einbezogen.
Nicht nur Geistliche begehen Taten – klare Konsequenzen jetzt für alle
Die ursprüngliche Fassung aus dem Jahre 2002 hatte vorwiegend Tatvorwürfe gegen Geistliche im Blick. Nun gelten die Regeln über die Verfahrensschritte der Ermittlungen, Hilfsangebote und Prävention einheitlich für alle Angehörigen des kirchlichen Dienstes, einschließlich der Ehrenamtlichen (Nr. 53, 54).
Eine unterschiedliche Behandlung von Klerus und Laien findet auf dem Gebiet der Sanktionen (Nr. 30, 41) insofern statt, als Kleriker und Ordensleute nach kirchlichem Strafrecht (cc. 695, 1387, 1395 CIC und den oben erwähnten Normae de gravioribus delictis) belangt werden, während auf Laien das dem weltlichen Recht nachgebildete kirchliche Arbeits-, Dienst- oder Vereinsrecht mit seinen Maßregeln Anwendung findet.
Einheitlich gilt, dass der Verurteilte nicht mehr in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im kirchlichen Bereich eingesetzt wird (Nr. 42) und eine Weiterbeschäftigung im kirchlichen Dienst überhaupt nur noch dann in Betracht kommt, wenn auf der Grundlage eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens eine Gefährdung von Minderjährigen verneint werden kann (Nr. 43). Durch kircheninterne Mitteilungspflichten sollen unter anderem Aufsichtsversäumnisse im Falle von Versetzungen vermieden werden (Nr. 46).
Was mitzuteilen ist und was vertraulich bleiben muss
Alle Angehörigen des kirchlichen Dienstes sind verpflichtet, einen Missbrauchsverdacht dem bischöflichen Beauftragten (Nr. 10 – 12, s. auch Teil 2 unserer Serie) mitzuteilen, soweit nicht Schweigepflichten zum Beispiel aufgrund des Beichtgeheimnisses entgegenstehen (Nr. 11).
Ein "Plausibilitätsfilter" (Nr. 10) ermöglicht das Ausscheiden offensichtlich unbrauchbarer, zum Beispiel anonymer Hinweise. Im Mittelpunkt steht dann die Unterredung mit dem Geschädigten (Nr. 15 – 18), auf Wunsch im Beisein der Eltern und einer weiteren Vertrauensperson.
Wegen des Tatumfeldes und einer angemessenen Opferhilfe muss der Kirche daran gelegen sein, dass sich Tatopfer gegenüber einer kompetenten kirchlichen Stelle offenbaren. Deshalb wird der Vertraulichkeit besondere Bedeutung beigemessen (Nr. 16). Dennoch steht bereits am Beginn des Gesprächs der Hinweis, dass der Missbrauchsverdacht der Strafverfolgungsbehörde mitgeteilt werden kann (Nr. 15). Der Gesprächsinhalt ist zu protokollieren und von den Beteiligten zu unterzeichnen (Nr. 17).
Die Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft ist schon bei Vorliegen "tatsächlicher Anhaltspunkte", das heißt einem Anfangsverdacht im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO, zwingend geboten (Nr. 26). Die Staatsanwaltschaft soll auch dadurch beteiligt werden, dass bei einem solchen Anfangsverdacht der Geschädigte auf die Möglichkeit einer eigenen Anzeigeerstattung hingewiesen (Nr. 18) und dem Beschuldigten zur Selbstanzeige "dringend geraten" wird (Nr. 22).
Die staatliche Strafverfolgung muss beteiligt werden– und hat Vorrang
Eine Weiterleitung der Informationen aus dem Gespräch mit dem Geschädigten darf nur unterbleiben, wenn das Tatopfer dies ausdrücklich wünscht (Nr. 27) und die Gründe aus einem Protokoll ersichtlich sind (Nr. 28). Ein solcher Verzicht setzt auch nach kirchlichem Rechtsverständnis die Einsichtsfähigkeit des Geschädigten in die Tragweite seiner Erklärung und – da auch das Personensorgerecht betroffen ist – die Zustimmung der Eltern voraus.
Die Weiterleitungssperre entfällt, wenn weitere Tatopfer in Betracht kommen (Nr. 27). Damit ist der Entscheidungsspielraum, der einer kirchlichen Stelle hinsichtlich einer Beteiligung der Staatsanwaltschaft verbleibt, äußerst gering.
Die seelsorglich begründete Einschränkung des Zusammenwirkens mit der Strafverfolgungsbehörde auf Wunsch des Geschädigten begünstigt keineswegs den Beschuldigten, da bei fortbestehendem Tatverdacht die kirchenrechtlichen Maßnahmen zum Opferschutz (Nr. 31, 32: Freistellung des Beschuldigten vom Dienst oder von der Arbeit mit Minderjährigen etc.) einzuleiten sind.
Die Rolle des Beschuldigten und die Wahrung der Unschuldsvermutung
Spätestens vor diesem kirchlichen Verfahrensschritt ist der Beschuldigte zu hören, wobei ähnliche Formalitäten wie bei dem Geschädigten einzuhalten sind (Nr. 20 – 23). Der Vorrang der staatlichen Strafverfolgung zeigt sich darin, dass eine frühere Anhörung, etwa unmittelbar nach dem Gespräch mit dem Geschädigten, nur stattfindet, sofern dadurch die Aufklärung des Sachverhalts nicht gefährdet und die Ermittlungsarbeit der Strafverfolgungsbehörden nicht behindert werden (Nr. 20). Im übrigen laufen beide Ermittlungsverfahren parallel.
Gerade wegen des besonderen Aufklärungsinteresses sind auch die Belange des Beschuldigten nicht zu vernachlässigen. Trotz Unschuldsvermutung (Nr. 25) kann er vorsorglichen Maßnahmen (Nr. 31) ausgesetzt sein, die meist der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben. Den guten Ruf eines fälschlich Verdächtigten wiederherzustellen (Nr. 35), erweist sich oft als schwierig. Die regelmäßige Einbeziehung der staatlichen Ermittlungsbehörden bietet auch einen gewissen Schutz vor leichtfertigen Anzeigen.
Schmerzensgeld ist nur ein Mittel zur Genugtuung
Bisweilen wird bemängelt, dass die finanzielle Entschädigung der Missbrauchsopfer in den Leitlinien ausgeklammert worden ist. Sie soll dem Runden Tisch mit der Bundesbeauftragten Dr. Christine Bergmann vorbehalten sein, um eine ungleiche Behandlung der Opfer zu vermeiden.
Da hier Straftaten zu beurteilen sind, die sich im kirchlichen Umfeld ereignet haben, ist es sachgerecht, in die nun anstehenden Beratungen neben dem vom staatlichen Recht bei Nichtvermögensschäden vorgesehenen Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) auch die Hilfsangebote des kirchlichen Rechts, u.a. seelsorgliche und therapeutische Hilfen, (Nr. 37 Satz 3) einzubeziehen.
Hier ist vor allem an die nicht seltenen Fälle zu denken, in denen es den Betroffenen nicht (oder nicht in erster Linie) auf eine Genugtuung in Geld ankommt. Für die Bemessung folgen sowohl die weltliche als auch die kirchliche Rechtsordnung dem Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit (Leitlinien Nr. 37 Satz 2, BGHZ 61, 101, st.Rspr.), das auch für unmittelbare Geldleistungen gilt. Es kann der Genugtuung des Opfers dienen, wenn der Diözese etwa wegen Auswahl- oder Aufsichtsverschuldens (kirchenrechtlich: culpa in eligendo aut in vigilando) eine fühlbare finanzielle Einbuße auferlegt wird; sie muss jedoch in einem angemessenen Verhältnis zu dem erlittenen Nachteil und zumutbaren anderen Hilfsangeboten stehen. Hierfür bieten die herkömmlichen Schmerzensgeldtabellen kaum eine geeignete Entscheidungsgrundlage.
Ähnliches gilt für die Haftung von Ordensinstituten. Allerdings verweist das kirchliche Recht bei vertragsrechtlichen Ansprüchen (zum Beispiel aus Schul- und Internatsvertrag) grundsätzlich auf das weltliche Recht (c. 1290 CIC).
Die zunächst am staatlichen Konzept orientierten Aussagen der Leitlinien über vorbeugende Maßnahmen (Nr. 48 – 52) sind unter dem 23. September 2010 durch eine Rahmenordnung ("Prävention von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz") näher ausgestaltet worden. Darüber hinaus wurde unter www.praevention-kirche.de ein Internetportal veröffentlicht, das die Aktivitäten der katholischen Kirche im Bereich Prävention bündelt und verlinkt.
Der Autor Prof. Dr. Manfred Baldus, Vorsitzender Richter am LG Köln a.D., ist Honorarprofessor für Kirchenrecht und Bildungsrecht am Institut für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte der Universität zu Köln.
Sexueller Missbrauch in der Kirche: . In: Legal Tribune Online, 05.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1641 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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