Um Befürchtungen einer islamischen Paralleljustiz zu nähren, braucht es keine Geschichten von Friedensrichtern, sondern nur einen Blick nach Stuttgart: Dort hat das OLG die Scheidung eines Ehepaares aus der Türkei mit Hinweis auf die "türkische Rechtswirklichkeit" abgelehnt. Mit seinem Beschluss vergeht sich das Gericht nicht nur am deutschen ordre public, kommentiert Jutta Wagner.
Eine Ehefrau soll sich nicht scheiden lassen können, obwohl sie wiederholt von ihrem Ehemann geschlagen worden ist. Einem Ehemann wird die Scheidung verweigert, obwohl die Ehegatten bereits seit sechs Jahren getrennt leben, weil er derjenige ist, der das alleinige Verschulden an der Zerrüttung der Ehe trägt.
Gerichtsentscheidungen aus einem fernen Land? Gerichtsentscheidungen aus einer anderen Zeit? Nein, die erste stammt vom Amtsgericht (AG) Frankfurt am Main aus dem Jahr 2007 und die zweite vom Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart, getroffen am 3. April 2012 (Az. 17 UF 352/121). Gemeinsam ist beiden Entscheidungen, dass sie Menschen betreffen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben und dem islamischen Kulturkreis entstammen.
OLG: "Verheiratete Frau genießt gegenüber geschiedener Frau höheres Ansehen"
Im ersten Fall bescheinigte die Richterin der Ehefrau, der Koran sehe doch ein Züchtigungsrecht des Ehemannes vor. Solches Verhalten sei ihr also zumutbar und hinzunehmen. Gegen die Frankfurter Richterin wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet; sie wurde vom Familiengericht wegversetzt.
Im zweiten Fall war der Ehemann immerhin noch in Anwendung türkischen Rechts vom AG geschieden worden. Dasselbe türkische Recht allerdings interpretierte OLG auf Beschwerde der Ehefrau jedoch anders. Der Ehemann habe ein Mitverschulden der Ehefrau an der Zerrüttung der Ehe nicht nachweisen können. Sie habe ein Widerspruchsrecht, weil sie ein schutzwürdiges Interesse am Fortbestand der Ehe habe. Wörtlich führen die Richter aus: "Nach der türkischen Rechtswirklichkeit genießt eine noch verheiratete Frau gegenüber einer geschiedenen Ehefrau ein wesentlich höheres Ansehen. Es ist nicht rechtsmissbräuchlich, wenn die Ehefrau nicht das ‚Stigma’ der geschiedenen Ehefrau auf sich nehmen will, ihre soziale Stellung ist damit weitaus gefestigter." Das verstoße nicht gegen unseren deutschen ordre public, stellt das OLG dann noch pflichtgemäß fest.
Von einem Disziplinarverfahren gegen die Stuttgarter Richter ist nichts bekannt. Immerhin stützen sie ja ihre Entscheidung auch nicht auf den Koran, sondern auf das deutsche und türkische Internationale Privatrecht (IPR), das türkische Zivilgesetzbuch und die "türkische Rechtswirklichkeit".
Scheidungsmöglichkeit bei Scheitern der Ehe ist Ausfluss persönlicher Freiheitsrechte
Der Laie staunt, die Fachfrau wundert sich. Da rufen türkische Staatsangehörige, die seit vielen Jahren in Deutschland leben, ein deutsches Gericht an. Das deutsche Gericht muß zwingend nach den entsprechenden deutschen und türkischen IPR-Vorschriften das gemeinsame Heimatrecht auf die Scheidung anwenden.
Nun mag man sich schon fragen, ob das deutsche IPR nicht angesichts der Entwicklung der deutschen Rechtswirklichkeit in den letzten Jahrzehnten einer gewissen Überarbeitung bedarf. Ausländer in Deutschland sind nicht mehr die Ausnahme und halten sich hier nicht mehr nur vorübergehend und für kurze Zeit auf, so dass man ihnen eine Unterwerfung unter das deutsche Recht nicht zumuten dürfte. Sie machen inzwischen einen einflussreichen Teil unserer Gesellschaft aus und lassen sich hier dauerhaft und auf Generationen nieder. Allerdings ist es Aufgabe des Gesetzgebers, hier Änderungsbedarf zu prüfen.
Nicht nachvollziehbar ist allerdings, dass das OLG Stuttgart meint, einen Verstoß gegen den deutschen ordre public ohne jede weitere Begründung verneinen zu können. Gehört es nicht zum deutschen ordre public, dass eine Ehe geschieden werden kann, wenn sie gescheitert ist? Ist die Möglichkeit, geschieden zu werden, nicht Ausfluß der persönlichen Freiheitsrechte aus Art. 2 Grundgesetz (GG)? Gibt es nicht ein Benachteiligungs- und Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 GG?
Vollends fassungslos macht jedoch, dass das OLG meint, zur richtigen Auslegung des türkischen Zivilgesetzbuchs in Deutschland die türkische Rechtswirklichkeit heranziehen zu müssen. Integration ist eines der großen Themen und eine der großen Aufgaben unserer Gesellschaft. Wir beklagten Parallelgesellschaften da, wo ausländische Mitbürger abgeschottet von der Mehrheitsgesellschaft leben. Es wird beklagt, dass sich zunehmend eine Paralleljustiz entwickelt, ausgeübt von islamischen Friedensrichtern unter Anwendung der Scharia. Vor allem in Berlin und in Nordrhein-Westfalen sollen solche Fälle mehr und mehr beobachtet werden. Von einem Wettlauf der deutschen Justiz gegen Friedensrichter ist bereits die Rede.
Die Akzeptanz unserer Rechtsordnung soll eine Integrationsvoraussetzung sein. Am OLG Stuttgart scheint dies alles spurlos vorbeigegangen zu sein. Es schickt die türkischen Staatsangehörigen dorthin zurück, wohin sie gehören - in ihre türkische Rechtswirklichkeit mitten in Deutschland.
Jutta Wagner ist Fachanwältin für Familienrecht und Notarin in Berlin. Sie ist Past President des Deutschen Juristinnenbundes und Verfasserin zahlreicher Veröffentlichungen unter anderem zum Ehe- und Familienrecht.
Scheidung einer türkischen Ehe: . In: Legal Tribune Online, 14.05.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6200 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag