Ukraine-Krieg und humanitäres Völkerrecht: Atom­kraft­werk als zuläs­siges mili­täri­sches Ziel?

Gastbeitrag von Anne Fock, LL.M.

18.03.2022

Kernkraftwerke sind oft strategische Ziele während bewaffneter Konflikte – und ein Angriff kann verheerende Folgen haben. Was das humanitäre Völkerrecht und das Umweltvölkerrecht zur Situation in der Ukraine sagen, erklärt Anne Fock.

Am 4. März 2022 wurde ein Angriff russischer Streitkräfte auf das größte ukrainische Atomkraftwerk in Saporischschja bekannt. Die Bilder des brennenden Gebäudes versetzten die Welt in Unruhe. Kurz darauf wurde verkündet, dass es sich nur um einen Trainingskomplex handelte und offenbar keine Strahlung ausgetreten war. Bereits wenige Tage zuvor hatten russische Streitkräfte das stillgelegte Atomkraftwerk in Tschernobyl eingenommen. 

Kraftwerke, ob nuklear oder nicht, können wegen der Energieversorgung wichtige Ziele für Parteien bewaffneter Konflikte darstellen. Von nuklearen Kraftwerken geht jedoch eine besondere Bedrohung aus: Nicht nur könnte ein Angriff den Zusammenbruch der Energieversorgung bedeuten. Er könnte auch eine Nuklearkatastrophe mit verheerenden, grenzüberschreitenden Folgen mit sich ziehen. Und das ganz ohne den Einsatz von Atomwaffen. 

Die internationale Staatengemeinschaft kritisierte die Geschehnisse in der Ukraine scharf. So verurteilte nicht nur die Beauftragte der Vereinten Nationen für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, die Angriffe auf das Atomkraftwerk als Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Auch das Umweltvölkerrecht könnte bei der Bewertung der Geschehnisse eine Rolle spielen.

Zulässige militärische Ziele im humanitären Völkerrecht

Als Kardinalprinzip des humanitären Völkerrechts schreibt der Unterscheidungsgrundsatz die Abgrenzung zwischen zivilen und militärischen Objekten vor. Deren Bestimmung richtet sich nach dem 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen (ZP I). Sowohl die Ukraine als auch Russland sind Mitgliedstaaten, darüber hinaus spiegelt das Abkommen Völkergewohnheitsrecht wider. 

Demgemäß müssen zulässige militärische Objekte grundsätzlich zwei Voraussetzungen erfüllen: Erstens muss ihre Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen. Auch zivil genutzte Objekte gelten gemäß des "dual use"-Ansatzes als militärische Ziele, sobald sie einen wirksamen Beitrag zu militärischen Handlungen leisten. Zweitens muss die Zerstörung oder Neutralisierung des Objekts einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellen. 

Besonderer Schutzstatus von Atomkraftwerken

Für besonders schützenswerte oder risikobehaftete Güter vereinbarten die Mitgliedstaaten zusätzlich spezielle Regelungen. So auch für Atomkraftwerke, die Art. 56 Abs. 1 S. 1 ZP I prinzipiell als militärische Ziele ausschließt. Dieses Verbot gilt dann, wenn durch einen Angriff auf ein Atomkraftwerk "gefährliche Kräfte" wie radioaktive Strahlung freigesetzt und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung riskiert werden. 

Kaum atmet man an dieser Stelle erleichtert auf, erfährt das Verbot sogleich eine Einschränkung im zweiten Absatz. Der Schutzstatus knüpft an die Nutzung der Atomkraftwerke an und endet, wenn: Erstens die Atomkraftwerke Strom zur "regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen liefern"; zweitens, der "Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, um diese Unterstützung zu beenden."

Ein gezielter Angriff, zum Beispiel ein Beschuss der Reaktorblöcke wie ihn der ukrainische Präsident Selenskyj in Saporischschja annahm, muss sich an diesem Maßstab messen. Dass der Angriff auf Saporischschja keine verheerenderen Folgen nach sich zog, könnte man auf ein informiertes und präzises Handeln durch Russland zurückführen. Der Austritt von Radioaktivität und somit ein ernsthafter Verlust unter Zivilpersonen war jedoch nicht ausgeschlossen; der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA sprach gar von einer "knappen Sache". 

Gezielter Beschuss von Reaktorblöcken ist unzulässig

Zudem handelt es sich bei Saporischschja zwar um das leistungsstärkste Atomkraftwerk Europas, dessen Energieversorgung einen entscheidenden Beitrag zu militärischen Handlungen leistet. Es sind hingegen durchaus andere Mittel denkbar, die Energieversorgung der ukrainischen Streitkräfte zu kappen. Etwa wäre an das Herunterfahren des Kernkraftwerks unter Kühlung der Reaktoren zu denken. 

Die Einstufung eines Atomkraftwerks als zulässiges militärisches Ziel ist somit nicht ausgeschlossen, muss sich jedoch hohen Ansprüchen stellen. Sollte Russland in Saporischschja gezielt Reaktorblöcke beschossen haben, wären diese Ansprüche nicht erfüllt. 

Kampfhandlungen in der Nähe eines Atomkraftwerkes, die den gleichen Schaden unter Zivilpersonenriskieren, haben sich den gleichen Hürden zu stellen.

Kollateralschaden und Umweltüberlegungen als weitere Hürden

Selbst die Einstufung eines Atomkraftwerks als legitimes militärisches Ziel würde noch nicht ausreichen, um einen Angriff zu rechtfertigen. Darüber hinaus dürfte er zudem nicht unterschiedslos stattfinden, d.h. ihre Auswirkungen auf geschützte Personen und Objekte dürften nicht völlig außer Acht bleiben (Art. 51 Abs. 4, 5 ZP I). 

Ist das militärische Ziel ein Atomkraftwerk, sind die Wirkungen im schlimmsten Fall nicht zu begrenzen. Doch selbst ohne Super-GAU hätte eine Zerstörung der Atomkraftwerke aufgrund der fehlenden Stromversorgung schwerwiegende humanitäre Folgen. Diesen Folgen wäre mit einem militärischen Vorteil nur schwer beizukommen, der sogenannte Kollateralschaden wäre exzessiv. 

Weitere Regelungen des 1. Zusatzprotokolls greifen den Schutz der Umwelt ebenfalls auf. Während Art. 55 ZP I den Schutzstatus der Umwelt auf den Schutz der Zivilbevölkerung zurückführt, ist Art. 35 Abs. 3 allgemeinerer Natur: Er schützt vor Angriffen, die "ausgedehnte, langanhaltende und schwere Schäden" auf die natürliche Umwelt haben. Diese Definition von unzulässigen Umweltschäden wird häufig als zu restriktiv und unklar beschrieben.

Für Kernkraftwerke dürften diese Regelungen aufgrund ihres gesonderten Schutzes ohnehin keine entscheidende Rolle spielen. Für Chemiefabriken und andere Industrieanlagen, die in der Ostukraine als Wirtschaftsregion zuhauf zu finden sind, hingegen schon. 

Um Lücken des humanitärvölkerrechtlichen Schutzes der natürlichen Umwelt zu schließen, liegt das Umweltvölkerrecht nahe. 

Anwendung des Umweltvölkerrechts während bewaffneten Konflikten?

Das Umweltvölkerrecht, wie auch das humanitäre Völkerrecht, stellt ein Spezialgebiet des Völkerrechts dar. Es umfasst Regelungen, die den Umgang mit und die Verantwortlichkeit für Umweltschäden aufgreifen. Dazu zählt etwa das Übereinkommen über nukleare Sicherheit von 1994, dem sowohl die Ukraine als auch Russland angehören.

Entscheidend ist das (Friedens-)Umweltvölkerrecht insbesondere für die Beziehung der Konfliktparteien zu Staaten, die zwar selbst nicht Konfliktpartei sind, durch Umweltschäden auf dem Kriegsgebiet dennoch betroffen wären. Die Annahme hingegen, das Umweltvölkerrecht fände ohne Einschränkung auch in bewaffneten Konflikten Anwendung, muss angesichts unzureichender Staatenpraxis verneint werden. 

Daraufhin jedoch internationale Umweltschutzregelungen während bewaffneten Konflikten gänzlich außer Acht zu lassen, wäre zu voreilig. Bereits 1996 verwies der Internationale Gerichtshof in seinem Nuklearwaffen-Gutachten auf "wichtige Umweltfaktoren, die im Rahmen der Anwendung der Grundsätze und Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren Rechts angemessen zu berücksichtigen sind" (Übersetzung aus dem Englischen durch die Autorin). 

Entsprechend dem – wenngleich nicht bindenden – Entwurf von Artikeln über die Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Verträge können einige umweltvölkerrechtliche Regelwerke dennoch angewendet werden: So etwa multilaterale Verträge, die entweder ihre Anwendbarkeit in bewaffneten Konflikten feststellen, oder deren Regelungsgegenstand eine fortwährende Anwendbarkeit impliziert. 

Das Übereinkommen über nukleare Sicherheit schweigt über seine Anwendbarkeit in bewaffneten Konflikten. Aufgrund seiner übergeordneten Wichtigkeit könnte diese impliziert sein. Letzten Endes kann das Übereinkommen jedoch die Regeln des humanitären Völkerrechts nie übertrumpfen, sondern nur auf Einzelfallbasis zusätzlich Anwendung finden. 
Die parallele Anwendung des humanitären Völkerrechts und Umweltvölkerrechts bedarf noch einiger Klärung. Ein direkter Angriff auf ein Atomkraftwerk, der schwere Gesundheits- oder Umweltschäden der Zivilbevölkerung und andere Verluste eingeht, kann jedoch bereits durch das humanitäre Völkerrecht als Kriegsverbrechen beurteilt werden.

Die Autorin Anne Fock, LL.M. (Universiteit Leiden), ist akademische Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht.

Zitiervorschlag

Ukraine-Krieg und humanitäres Völkerrecht: . In: Legal Tribune Online, 18.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47861 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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