Die EU-Kommission hat am Mittwoch beschlossen, wegen Sarkozys umstrittener Roma-Ausweisungen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich anzustrengen. Bis der EuGH sich aber mit dem Fall beschäftigt, ist es noch ein langer Weg. Przemyslaw Nick Roguski über das Verfahren, den Vorwurf der EU an die Franzosen und Möglichkeiten der Roma, gegen ihre Ausweisung vorzugehen.
Im August 2010 haben die französischen Behörden zahlreiche vorwiegend von bulgarischen und rumänischen Roma bewohnte Lager aufgelöst und die Bewohner dieser Lager in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Dieses Vorgehen rief die EU-Kommission als Hüterin des EU-Rechts auf den Plan. Denn die ausgewiesenen Roma sind als Bürger Rumäniens oder Bulgariens auch Unionsbürger gemäß Art. 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ("AEUV") und genießen im Unionsgebiet volle Freizügigkeit (Art. 21 AEUV).
Die für Justiz und Grundrechte zuständige Kommissarin Viviane Reding warf dem französischen Präsidenten Sarkozy vor, EU-Recht zu brechen und die Roma zu diskriminieren. Sie verglich die Ausweisungen indirekt mit dem Vorgehen der Nazis im zweiten Weltkrieg. Während des EU-Gipfels in Brüssel kam es zum Streit.
Nun also soll der Streit juristisch entschieden werden und dem Kommissionsbeschluss ist anzumerken, dass man um eine Abkühlung der Emotionen bemüht ist. Denn der Kommission standen mehrere Handlungsoptionen offen und unter diesen wählte sie die mildeste.
Das Unionsrecht schützt die Freizügigkeit der Unionsbürger
Die Roma genießen als Unionsbürger gemäß Art. 21 AEUV Freizügigkeit im Unionsgebiet, also auch in Frankreich. Sie dürfen demnach nach Frankreich einreisen und sich dort ohne jegliche Bedingungen und Formalitäten aufhalten. Dies gilt jedoch nach der "Freizügigkeitsrichtlinie" (Richtlinie 2004/38/EG) nur für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten.
Ein Aufenthalt von mehr als drei Monaten ist nur dann gestattet, wenn der Unionsbürger Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmestaat ist oder nachweislich über eine Krankenversicherung und genügend Existenzmittel verfügt, um keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch zu nehmen (Art. 7 der Freizügigkeitsrichtlinie).
Das Aufenthaltsrecht darf zudem durch die Staaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränkt werden (Art. 27 der Freizügigkeitsrichtlinie). Solche Maßnahmen dürfen jedoch nur einzelfallbezogen angewendet werden und müssen verhältnismäßig sein.
Für jede Ausweisung stellt die Freizügigkeitsrichtlinie umfassende Verfahrensgarantien auf. Der Staat muss jeden Einzelfall prüfen und belegen, ob und worin die Voraussetzungen für eine Ausweisung vorliegen. Auch sind die persönlichen Umstände des Betroffenen, das heißt Alter, Gesundheit, Länge des Aufenthalts und Verbindungen zum Gastland genau zu prüfen. Zudem muss der oder die Betroffene die Möglichkeit haben, sich gerichtlich gegen die Ausweisung zu wehren.
Die Vorwürfe gegen Frankreich
Gegen Frankreich werden nun im Wesentlichen zwei Vorwürfe erhoben. Zum einen soll Frankreich gegen Unionsrecht verstoßen haben, indem es die Freizügigkeitsrichtlinie, insbesondere deren Verfahrensgarantien, nicht in französisches Recht umgesetzt hat. Anders als Verordnungen, die unmittelbare Geltung haben, müssen Richtlinien von Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Geschieht dies nicht innerhalb der gesetzten Frist, stellt dies einen Verstoß gegen Unionsrecht dar und kann von der Kommission im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV geahndet werden. Der Vorwurf lautet also nicht, dass Frankreich durch die Abschiebungen gegen die europäische Richtlinie verstoßen habe, sondern vorgelagert noch, dass die grande nation das Europäische Recht erst gar nicht in nationales umgesetzt hat.
Zum anderen wird Frankreich vorgeworfen, es sei bei den Ausweisungen gezielt gegen bulgarische und rumänische Roma vorgegangen und habe so gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV und des Art. 21 der EU-Grundrechtecharta sowie das Verbot von Kollektivausweisungen nach Art. 19 der EU-Grundrechtecharta verstoßen. Auch dieser Vorwurf, der politisch natürlich viel brisanter ist, kann juristisch verfolgt werden.
Die Kommission entschied sich, den Streit nicht weiter zu entflammen und zunächst nur wegen der Nichtumsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie gegen Frankreich vorzugehen. Dabei droht sie die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens an.
Gang des Vertragsverletzungsverfahrens
Bevor bei einem Vertragsverletzungsverfahren der Gerichtshof der Europäischen Union ("EuGH") mit einem Sachverhalt befasst wird, muss ein Vorverfahren stattfinden. Die Kommission muss dem Mitgliedstaat ein Mahnschreiben zuschicken, in dem sie ihre Beanstandungen auflistet. Der Staat hat sodann die Gelegenheit zu einer Gegendarstellung.
Sofern danach keine Einigung erzielt werden kann, gibt die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Die Stellungnahme enthält die Aufforderung an den Mitgliedstaat, den vertragswidrigen Zustand in einer gesetzten Frist zu beheben. Erst wenn der Mitgliedstaat dieser Aufforderung nicht nachkommt, kann die Kommission vor dem EuGH Klage erheben.
Aus der Pressemitteilung über den Kommissionsbeschluss vom Mittwoch geht nun hervor, dass die Kommission noch kein offizielles Mahnschreiben an Frankreich schickt, also noch nicht das Vorverfahren zu einem Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Vielmehr wurde dieser Schritt erst für den Fall angedroht, dass Frankreich bis zum 15. Oktober 2010 nicht einen Entwurf der Maßnahmen zur Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie und einen Umsetzungszeitplan vorlegt.
Bezüglich des Vorwurfs der gezielten Diskriminierung der Roma beschränkt sich die Kommission darauf, von Frankreich zusätzliche Informationen einzufordern.
Auch Individualklagen sind möglich
Allerdings ist in diesem Fall nicht nur die Kommission berechtigt, gegen Frankreich vorzugehen. Das können auch die Roma selbst. Sollte Frankreich die Freizügigkeitsrichtlinie tatsächlich nur ungenügend in nationales Recht umgesetzt haben, so gilt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH, dass ein Bürger sich auch direkt auf eine Richtlinie berufen kann, wenn diese ihm subjektive Rechte verleiht und inhaltlich unbedingt und hinreichend genau formuliert ist.
Dies ist bei der Freizügigkeitsrichtlinie der Fall. Stimmt der Vorwurf, dass die oben genannten Verfahrensgarantien nicht eingehalten wurden, hätte ein gerichtliches Vorgehen der Betroffenen zur Konsequenz, dass die Ausweisungen von den französischen Gerichten für illegal erklärt werden müssten. Einer Rückkehr der Roma nach Frankreich stünde daher selbst bei ausgesprochenen Einreiseverboten nichts im Wege.
Dass viele Roma klagen werden, erscheint aber eher unwahrscheinlich. Denn dies würde zunächst die Kenntnis der eigenen Rechte und nicht zuletzt finanzielle Mittel erfordern. Beides ist bei vielen Roma, die eher am Rande der Gesellschaft leben, nicht zu erwarten.
Dessen ist sich auch die Kommission bewusst. Um die soziale und materielle Situation der Roma zu verbessern, hat die Kommission daher eine "Roma Task Force" gegründet, die die Effektivität des EU-Rechts bei der Integration der Roma analysieren soll. Das angedrohte Vorgehen gegen Frankreich sowie gegen andere Staaten, die die Freizügigkeitsrichtlinie nicht umgesetzt haben, ist daher auch Teil der neuen Roma-Strategie der Kommission. Ob diese Erfolg hat, wird auch an dem weiteren Verhalten Frankreichs zu messen sein. Die erste Runde scheint aber die Kommission gewonnen zu haben.
Der Autor Przemyslaw Nick Roguski, Mag. Iur. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Internationales Wirtschaftsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Przemyslaw Roguski, Roma-Ausweisungen in Frankreich: . In: Legal Tribune Online, 01.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1616 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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