Streit um Erlass in Bremen: Stören Reichs­flaggen die öff­ent­liche Ord­nung?

Gastbeitrag von Dr. Tim Wihl

26.10.2020

Der Bremer Innensenator will Reichsflaggen auf Demos per Erlass verbieten, doch die Gerichte spielen nicht mit. Zu Recht, denn Ausnahmen von der Meinungsneutralität sind nur möglich, wenn es wirklich speziell um Nazi-Symbolik geht, meint Tim Wihl.

Die Weimarer Republik hatte ihren Flaggenstreit – 1926 zerbrach darob sogar eine der (zahlreichen) Regierungen der ersten deutschen Demokratie. Der nationalliberale, der DVP nahestehende Reichskanzler Luther hatte – nach der bereits heftigen Auseinandersetzung um die Frage der Staatssymbole in der verfassunggebenden Nationalversammlung 1919 – zusammen mit dem Reichspräsidenten Hindenburg eine Änderung verfügt: Im außereuropäischen Ausland und in den Seehandelshäfen sollte die Handelsflagge (im alten Schwarz-Weiß-Rot, aber mit schwarz-rot-goldenem Obereck) neben der Nationalflagge in den Botschaften und Konsulaten hängen.

Wie sollte man das verstehen, wenn nicht als Einknicken vor nationalkonservativen Kreisen um die deutschnationale DNVP? Als eine Reminiszenz an den deutschen Kolonialismus vor dem Versailler Vertrag gar? Die Aufregung der Republikaner war jedenfalls riesig. Die in ihrer Legitimität in der bürgerlichen Rechten stets angefochtene Demokratie schien sich ein Stück selbst zu delegitimieren. Darauf hatten monarchistische Teile der Bevölkerung lange gewartet. Es war nicht zuletzt ein Ausdruck der "Tendenzwende" nach der Reichspräsidentenwahl 1925, in der der Sozialdemokrat Ebert durch den Monarchisten Hindenburg abgelöst worden war.

Die hochsymbolisch aufgeladene Debatte der Weimarer Jahre, die letztlich einen Stellvertreterkonflikt um die richtige Staatsform darstellte, droht sich heute kaum zu wiederholen. Und dennoch ist seit einigen Jahren zu beobachten, dass in der extremen Rechten an die Stelle der schon lange illegalen Symbole des NS-Staates (Hakenkreuz voran) die Insignien des Kaiserreichs treten. Einerseits ist das vielleicht geschichtsblind, weil die NS-Diktatur, die man am äußersten rechten Rand eigentlich verehrt, einen Bruch auch mit den alten monarchistischen Milieus bedeutete. Andererseits weist es doch auch auf tieferliegende Kontinuitäten der deutschen Rechten, wie sie gerade der Historiker Eckart Conze wieder in seiner Abhandlung über die "langen Schatten des Kaiserreichs" hervorhebt. Auch in der Debatte um die Entschädigung der Hohenzollern wird diese Kontinuitätsfrage (nicht zuletzt juristisch) verhandelt.

In diesem Licht ist es gar nicht so überraschend, dass bei der extremen Rechten auch die Symbole des alten Kaiserreiches so beliebt sind. Immerhin gehörte es zu den Symboltaten der NS-Regierung 1933, von der demokratischen zunächst zur Reichsflagge zurückzukehren. Man muss diese Hintergründe kennen, um den kleinen (!) neuen Flaggenstreit zu verstehen, der sich gerade vor deutschen Verwaltungsgerichten bisher im kleinen Bremen abspielt. Auch in anderen Bundesländern, etwa Niedersachsen und NRW, ist das Thema in der politischen Debatte angekommen.

Kleiner Flaggenstreit im kleinen Bremen

Der Bremer Flaggenstreit geht wiederum auf einen Erlass des dortigen Innensenators zurück, der auch anderen Bundesländern hätte Vorbild sein können, wenn, ja wenn er vor den Gerichten mehr Gnade gefunden hätte.

Der Bremer Innensenator störte sich – wie viele andere – an der großen Präsenz der Reichsflaggen bei den Demonstrationen der Corona-Leugner, nicht zuletzt bei der großen Veranstaltung in Berlin, bei der jüngst schwarz-weiß-rote Flaggen vor dem Bundestag geschwenkt wurden. Für viele waren gerade diese Flaggen der sichtbarste Beleg für die Bedeutung der rechtsextremen Anteile bei diesen Demos, die ansonsten auch ganz anders gesinnte Bürger ansprachen. Daher verfügte der Senator per Erlass, also verwaltungsinterner Anweisung, dass in der Regel davon auszugehen sei, dass Reichsflaggen die öffentliche Ordnung störten, also im Falle von deren Benutzung in Versammlungen ein Ordnungswidrigkeitenverfahren einzuleiten sei.

Dies wiederum sollte auch die versammlungsbehördliche Prognose über unmittelbare Gefahren für die Rechtsordnung aus angemeldeten Versammlungen steuern: Wenn Reichsflaggen als Hilfsmittel angekündigt werden oder zu erwarten sind, sollten diese als "Reichskriegsflaggen im Sinne des Erlasses" wegen Verstoßes gegen § 118 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) als "Belästigung der Allgemeinheit" sogar ein präventives Versammlungsverbot rechtfertigen helfen.

Randständige Symbolik aus dem öffentlichen Raum verbannen?

Eine erstaunliche Konstruktion: Auf der Grundlage der maximal unbestimmten Norm – "Ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen" – soll eine bestimmte randständige Symbolik aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Das OLG Koblenz hat § 118 OWiG in einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 zumindest auf die Reichskriegsflagge, im Gegensatz zur Reichsflagge ein unmissverständliches Militarismussymbol, unter engen Umständen angewandt. Auf das Zeigen von Reichsflaggen im Kontext grundrechtlich besonders geschützter Versammlungen passt der Paragraph nicht.

Einerseits ist schon zweifelhaft, dass "die Allgemeinheit" mit den Subtilitäten der deutschen Flaggengeschichte, also auch mit der NS-Konnotation der älteren Reichsflagge vertraut ist – es ist ja schon fraglich, ob das für die Fahnenschwenker selbst gilt. Andererseits ist der Einsatz der Flagge unzweifelhaft eine vorderhand grundrechtlich geschützte Meinungskundgabe im Rahmen der Versammlung. Diese mag im loseren oder engeren Zusammenhang zum Versammlungsthema stehen – doch wer wird durch sie "belästigt" oder gar "gefährdet"?

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) lässt als "allgemeines Gesetz", das die Meinungsfreiheit zu beschneiden geeignet wäre, nur solche Gesetze – und damit auch nur solche Auslegungen des vagen § 118 OWiG – zu, die sich "meinungsneutral" allein gegen die aggressive, potentiell einschüchternde Art und Weise der Meinungskundgabe richten. Daran erinnerte auch das Verwaltungsgericht (VG) Bremen in seiner Entscheidung zu einer Demonstration gegen den besagten Erlass, die das Oberverwaltungsgericht bestätigte (OVG Bremen, Beschl. v. 16.10.2020, Az: 1 B 323/20). Am vergangenen Freitag ergingen weitere Entscheidungen des VG und des OVG Bremen, die juristisch auf der gleichen Linie lagen, zu einer schließlich überraschend abgesagten Folge-Demonstration.

Der verwaltungsinterne Erlass konnte an der grundrechtlichen Vorgabe der Meinungsneutralität nichts ändern. Aber auch ein denkbares Gesetz, das nun das Versammlungsgesetz auf Landesebene ergänzen würde (und etwa von den Grünen in Niedersachsen gefordert wird), verfiele dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit, sofern es auf die Reichsflagge als symbolischen Meinungsausdruck abstellte und nicht auf deren einschüchternden Gebrauch.

Ausnahmen von der Meinungsneutralität nur bei typischen NS-Symbolen

Zwar existiert im Strafrecht ein Verbot der Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen, worunter insbesondere die Hakenkreuzfahne fällt. § 86 a Strafgesetzbuch (StGB) als dieses Kennzeichenverbot basiert aber gerade darauf, dass der erläuternde § 86 StGB auf verfassungswidrige Organisationen Bezug nimmt, zu denen auch die frühere NSDAP zählt. Nur in diesem engen Fall sind Ausnahmen von der Meinungsneutralität des Gesetzes denkbar: wenn es eben um die Symbole vom BVerfG so eingeordneter, (vor Verwaltungsgerichten) unanfechtbar verbotener oder qua NS-Zusammenhang per se verfassungswidriger Organisationen geht.

Auch die berühmte Wunsiedel-Formel des BVerfG von der unbedingten Absage des Grundgesetzes an die NS-Schreckensherrschaft erweitert die Spielräume des Gesetzgebers jenseits meinungsneutraler Regeln eben nicht über Symbole mit klarem NS-Bezug hinaus. Zwar führen politische Symbole selbstverständlich ein Eigenleben, sind nur performativ zu verstehen, nicht irgendwie ewig an ein bestimmtes historisches Datum fixiert. Aber es ist bisher wohl kaum so weit, dass die Reichsflagge mit dem Hakenkreuz in der "allgemeinen" Wahrnehmung bedeutungsgleich geworden ist. Eine vergleichbare, mit § 118 OWiG oder versammlungsrechtlichen Auflagen regulierbare Militanz mit daraus folgendem Einschüchterungseffekt ergibt sich daraus nicht.

Umgekehrt sind es gerade der unvollkommene Liberalismus des Grundgesetzes, seine negativ-republikanischen Anteile, die nur ganz partikulare Meinungsinhalte aus der öffentlichen Debatte ausschließen sollen, aber nicht mehr als unbedingt geboten. Wenn "öffentliche Ordnung" über die "öffentliche Sicherheit" hinaus bestimmte unzumutbare Meinungsinhalte erfassen soll, sind diese durch das Grundgesetz selbst strikt auf das Gegenbild ausschließlich der wesenstypischen Merkmale der NS-Herrschaft gerichtet.

Volksverhetzung, Beleidigung, Bedrohung: Einschüchterung wird schon erfasst

Einschüchterung im rechtlich relevanten Sinne wird wiederum von den Straftatbeständen der Volksverhetzung, Beleidigung, Bedrohung etc. vollkommen hinreichend erfasst. Die aggressive Durchführung einer Versammlung ist keine Frage der Ordnung, sondern bereits der Sicherheit für individuelle Menschen. Auch wenn politische Freiheit immer mit Konflikt, Kraftentfaltung, Druckausüben, ja sogar Kostenverursachung zu tun hat, besteht ihre Grenze stets in der physischen, aber auch psychischen Gewalt gegen vulnerable Gruppen.

Diese Schwelle muss aber auch erreicht sein und wird durch das bestehende Strafrecht abgedeckt. Die Menschenwürde zu schützen, ist dem Staat bereits über § 130 StGB, den Volksverhetzungsparagraphen, konkret aufgegeben.

Liegt keine Volksverhetzung vor, kann nicht das Ordnungswidrigkeitenrecht in die Bresche springen, sondern dann muss man den Meinungskampf offen führen und den § 118 OWiG den Verboten des Nacktradelns und ähnlichen Trivialitäten vorbehalten. Die vom Bremer Senat beschworenen "Angsträume" oder ein nationalistisches Klima zu verhindern sind gesellschaftliche Aufgaben, keine eines Staates, der politischen Konflikt präventiv unterdrücken will. Angesichts der angekündigten, dann abgesagten Schwarz-Weiß-Rot-Demo in Bremen am Samstag, die das VG unter Corona-Auflagen genehmigt hatte, sollten jedenfalls auch zahlreiche Gegendemonstrationen stattfinden.

Dr. Tim Wihl ist Rechtswissenschaftler und Gastdozent am Lehrstuhl für Theorie der Politik der Humboldt-Universität zu Berlin.

Zitiervorschlag

Streit um Erlass in Bremen: . In: Legal Tribune Online, 26.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43211 (abgerufen am: 19.11.2024 )

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