Es bedurfte erst der "VW-Abgasaffäre", damit in Deutschland ernsthaft über die Einführung einer Sammelklage nachgedacht wurde. Benedikt Windau hat sich den Referentenentwurf des Gesetzes zur Einführung einer Musterfeststellungsklage näher angesehen.
Verbraucherverbände haben schon seit 2002 mit der Einziehungsklage nach § 79 Abs. 2 Nr. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) die Möglichkeit, Ansprüche von Verbrauchern gerichtlich geltend zu machen. Diese Regelung hat sich in der Praxis aber als zu aufwändig erwiesen und ist deshalb weitgehend bedeutungslos geblieben.
Schon länger bekannt ist daher die Idee de BMJV, Verbraucherverbänden das Recht einzuräumen, mit einer sog. Musterfeststellungklage Umstände feststellen zu lassen, die für eine Vielzahl von Verbrauchern bedeutsam sind. Und die betroffenen Verbraucher davon profitieren zu lassen, wenn sie ihre Ansprüche zu einem Klageregister angemeldet haben.
Klagebefugnis auch für IHK und Handwerkskammern
Die konkrete Ausgestaltung des Entwurfs lässt deutliche Anleihen beim Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) und insbesondere beim Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) erkennen. Anders als diese Sonderregelungen sollen die Bestimmungen über die Musterfeststellungsklage aber in die ZPO integriert werden.
Für Musterfeststellungsklagen sachlich zuständig sollen unabhängig vom Streitwert die Landgerichte sein, wobei eine Übertragung auf den Einzelrichter (§§ 348-350 ZPO) ausgeschlossen wird. Die Landesregierungen werden ermächtigt, die örtliche Zuständigkeit für Musterfeststellungsklagen durch Verordnung zu konzentrieren.
Das Recht, eine Musterfeststellungsklage zu erheben, soll nach dem Entwurf neben Verbraucherverbänden i.S.d. § 3 Nr. 1 UKlaG auch Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern zustehen. Damit werden entsprechend § 3 Nr. 3 UKlaG auch kleine und mittelständische Unternehmen in den Schutzbereich der Musterfeststellungsklage einbezogen. Diese Beschränkung der Klagebefugnis soll sachwidrige oder missbräuchliche Musterfeststellungsklagen – die berühmten "amerikanischen Verhältnisse" – verhindern.
Gegenstand der Feststellung kann das "Vorliegen oder Nichtvorliegen der Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen eines Anspruchs oder Rechtsverhältnisses" sein. Die Formulierung lehnt sich an § 2 Abs. 1 KapMuG an und geht über § 256 Abs. 1 ZPO weit hinaus: Auch die Feststellung einzelner Elemente oder Vorfragen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen oder sogar die Klärung einzelner Rechts- oder Auslegungsfragen wäre danach möglich. Die Musterfeststellungsklage bleibt aber auf Feststellungsziele beschränkt; Elemente einer Leistungsklage, wie sie noch die Verbraucherschutzministerkonferenz im April dieses Jahres gefordert hatte, fehlen.
Mit dem Antrag ist außerdem darzulegen, dass die Feststellungen für Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von mindestens zehn Betroffenen bedeutsam sind.
Mit zehn Euro ist man dabei
Besondere Bedeutung kommt dem in elektronischer Form beim Bundesamt für Justiz zu führenden Prozessregister zu. In diesem werden die Musterfeststellungsverfahren unter Angabe des Gerichts, des Aktenzeichens, der Feststellungsziele und einer knappen Darstellung des Sachverhalts veröffentlicht. Betroffene, deren Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von den Feststellungszielen abhängen, können bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zur Eintragung in das Klageregister anzumelden.
Die Anmeldung soll eine Gebühr in Höhe von zehn Euro auslösen und keiner anwaltlichen Vertretung bedürfen. In der schriftlichen oder elektronischen Anmeldung sind entsprechend § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO Gegenstand und Grund des Anspruchs oder Rechtsverhältnisses sowie die Höhe des Anspruchs anzugeben. Durch die Anmeldung der Forderung soll entsprechend § 204 Nr. 6a BGB die Verjährung gehemmt werden. Der Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, die Verjährungshemmung auf sämtliche – auch nicht anmeldende – Betroffene zu erstrecken, würde damit nicht aufgegriffen.
2/2: Keine Nebenintervention der Betroffenen
Das Musterfeststellungsverfahren selbst soll sich weitestgehend nach den allgemeinen zivilprozessualen Vorschriften richten. Ausdrücklich ausgeschlossen wird aber eine Beteiligung der Anmelder am Musterfeststellungsverfahren; diese können zwar als Zeugen vernommen werden, nicht aber als Nebenintervenienten auftreten, auch kann ihnen nicht der Streit verkündet werden.
Die Besonderheit der Musterfeststellungsklage ergibt sich aus der Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils: Ein später zur Entscheidung über eine Leistungsklage berufenes Gericht soll an die Feststellungen tatsächlicher wie rechtlicher Art gebunden sein, wenn sich die Anmelder – nicht aber die beklagte Partei – auf das Musterfeststellungsurteil berufen.
Ausführlich regelt der Entwurf in Anlehnung an §§ 17 bis 19 KapMuG den Abschluss eines Vergleichs im Musterfeststellungsverfahren. Der Vergleich soll Bestimmungen über die auf die Anmelder entfallenden Leistungen und deren Fälligkeit sowie die Modalitäten des Nachweises der Berechtigung enthalten. Zudem soll der Vergleich nicht nur der Feststellung nach § 278 Abs. 6 ZPO, sondern auch der Genehmigung durch das Gericht bedürfen. Diese Genehmigung soll davon abhängen, dass das Gericht den Vergleich "unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes … als angemessene gütliche Beilegung der angemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse erachtet". Zum Schutz der Anmelder wird diesen das Recht eingeräumt, innerhalb einer Frist von einem Monat ihren "Austritt aus dem Vergleich" zu erklären; erklären mehr als 30 Prozent der Anmelder ihren Austritt, wird der Vergleich unwirksam.
Geschädigte VW-Kunden werden von dem Gesetz außerdem wohl nicht profitieren: Das Gesetz soll erst zwei Jahre nach Verkündung in Kraft treten, da es einer Aufbauphase für das elektronische Klageregister sowie der Bereitstellung von Haushaltsmitteln bedürfe.
Klageindustrie nicht zu befürchten
Die Klagebefugnis in die Hände bestimmter Verbände zu legen, ist ein sehr sinnvoller Ansatz, um das rationale Desinteresse der Betroffenen – dass sich aufgrund des geringen Streitwerts ein Gang zum Gericht nicht zu lohnen scheint – zu überwinden, ohne einer "Klageindustrie" den Weg zu ebnen. So ist beispielsweise Frankreich mit der "action de groupe" 2014 einen ähnlichen Weg gegangen, ohne dass Auswüchse bekannt geworden wären. Zu begrüßen ist auch, dass die Möglichkeiten des Gesetzes nicht nur Verbrauchern, sondern ausdrücklich auch anderen Wirtschaftsteilnehmern offen stehen sollen.
Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen des sog. Telekom-Prozesses sollte aber nicht aus den Augen geraten, dass eine "zügige Klärung von Tatsachen- und Rechtsfragen" - wie es der Entwurf nennt- auch maßgeblich davon abhängt, dass eine zügige und möglichst gütliche Erledigung auch für die Beklagten attraktiv ist. Durch die Teilung in das Musterfeststellungsverfahren und einen nachfolgende Individualprozesse, in denen die Beklagten einzelfallbezogene Einwendungen erheben können, bleibt im Gegensatz zu "echten Sammelklagen" auf Beklagtenseite ein gewisses Obstruktions- und Verzögerungspotential.
Förderung des Verfahrens für Beklagte uninteressant
Davon Abstand zu nehmen und auf eine zeitnahe Beendigung hinzuwirken, wird für die Beklagten nur dann attraktiv sein, wenn sie das Verfahren relativ frühzeitig durch einen Vergleich beenden und damit Planungssicherheit schaffen können. Der Abschluss eines Vergleichs wird aber dadurch wesentlich erschwert, dass die Anmelder – trotz der gerichtlichen Billigung – aus dem Vergleich austreten können und damit nicht alle Beteiligten "am Verhandlungstisch" sitzen.
Ohne die Möglichkeit eines Vergleichsschlusses ist es für die Beklagten aber uninteressant, das Verfahren zu fördern. Denn selbst eine Abweisung der Musterklage wäre für sie nicht von Nutzen, weil sie sich in Folgeprozessen darauf nicht berufen können. Kommt es nicht zu einem Vergleichsschluss dürfte es für die Beklagten nach dem vorliegenden Entwurf durchaus attraktiv sein, "auf Zeit zu spielen" und auf das "rationale Desinteresse" der Betroffenen zu setzen.
Beide genannten Einschränkungen werden mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) begründet; schließlich seien die Anmelder nicht am Musterfeststellungverfahren beteiligt. Dabei wird aber nicht hinreichend berücksichtigt, dass niemand gezwungen ist, seine Forderung im Prozessregister anzumelden und damit von den Ergebnissen der Musterklage zu profitieren; neben der Musterfeststellungsklage bleiben individuelle Klagen Betroffener ausdrücklich weiter zulässig. Die Anmeldung soll vielmehr gerade denjenigen eine Rechtsschutzmöglichkeit eröffnen, die anderenfalls durch ihr "rationales Desinteresse" von einer gerichtlichen Geltendmachung abgehalten werden - der Entwurf geht in der Berechnung der Kosten von einem Medianstreitwert von 600 Euro aus.
Es erschiene daher interessengerecht, den von einer Anmeldung Profitierenden auch an den damit einhergehenden Risiken zu beteiligen und an einem gerichtlich gebilligten Vergleich festzuhalten. Zudem sollte die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils in einem Folgeprozess zweckmäßigerweise davon abhängen, dass sich eine der Parteien darauf beruft.
Benedikt Windau ist Richter am Amtsgericht Cloppenburg und schreibt unter www.zpoblog.de über aktuelle zivilprozessuale Themen.
Benedikt Windau, Referentenentwurf zur Einführung der Musterfeststellungsklage: Einer klagt für alle . In: Legal Tribune Online, 19.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21431/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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