Für seinen Anteil beim XXL-Gefangenendeal war Deutschland bemüht, sich an rechtliche Vorgaben zu halten. Doch so richtig passt das alles nicht. Warum auch ein rechtlicher Ausnahmefall demokratisch verankert gehört.
Bis Anfang August saß die Hauptfigur im größten Gefangenenaustausch seit dem Ende des Kalten Kriegs in der JVA Straubing ein: der russische sog. Tiergartenmörder Wadim Krassikow, verurteilt zu lebenslanger Freiheitsstrafe, bei Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte schon seit geraumer Zeit deutlich gemacht, wie dringend er seinen Staatsbürger zurückhaben wollte. Dafür war er bereit, sich zusammen mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko auf einen Deal mit Deutschland, den USA, Norwegen, Polen und Slowenien über den Austausch von Gefangenen einzulassen. Um den für Putin wichtigsten Teil der Abmachung erfüllen zu können, brauchte es aufseiten der Bundesregierung einen rechtlichen Weg.
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass ein Staat seinen Strafverfolgungsanspruch zugunsten einer außenpolitischen Entscheidung aufgibt. Schließlich setzt damit die Exekutive eine rechtkräftige Entscheidung der Judikative außer Kraft. Lässt die Rechtslage das zu?
Ja, sie lässt es zu. Genauer gesagt: Sie erlaubt es nicht ausdrücklich, sie steht dem aber jedenfalls nicht entgegen. Die Bundesregierung stützt ihren Anteil an dem Gefangendeal auf eine Norm aus der Strafprozessordnung (StPO). Experten wie der Ex-Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio, der Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel oder der Europarechtsprofessor Franz C. Mayer sind sich einig, dass die Vorschrift zwar die einschlägige Rechtsgrundlage bildet, aber eigentlich nicht passt.
Der Deal bereitet zwar Bauchschmerzen – aber nicht deshalb, weil man sich in Berlin das Recht zurechtgebogen hat. Vielmehr fühlten sich Politik und Behörden einem anerkannten Verwaltungsablauf verpflichtet, agierten eng am bestehenden Paragrafenbestand und kommunizierten die Abwägungskriterien für die letztlich politische Entscheidung transparent. Die Einzelheiten dieses Ablaufs haben einen näheren Blick verdient.
Ein Türchen im Strafprozessrecht
Bundesregierung und Bundesjustizministerium stützen sich auf § 456a StPO, der der Strafvollstreckungsbehörde seit 1929 erlaubt, von der Vollstreckung der Reststrafe abzusehen, u.a. "wenn der Verurteilte aus dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes abgeschoben wird". Davon wird Gebrauch gemacht, wenn die Behörden einen Straftäter ausweisen wollen, gerade weil er Straftäter ist. Denn dann besteht jedenfalls bei schweren Straftaten nach dem Aufenthaltsrecht ein Ausweisungsinteresse – oder anders gewendet: Es besteht kein Resozialisierungsinteresse.
Das normieren die §§ 53 und 54 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Nach § 53 Abs. 1 AufenthG etwa wird "ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet", ausgewiesen, wenn die "Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt". Diese Interessenlage führt § 456a StPO konsequent zu Ende, indem er der Entscheidung der Ausländerbehörde zur Umsetzung verhilft. Der Normzweck ist ein ökonomischer: Es geht um Entlastung der deutschen Justiz von Personen, die zu gefährlich sind, um sie (wieder) in die Gesellschaft einzugliedern. Dabei geht es auch und vor allem um finanzielle Entlastung des Fiskus. Denn: Wer nicht im Gefängnis sitzt, kostet auch nichts. Dass ein Straftäter, der ohnehin nicht in Deutschland bleiben soll, die komplette Strafe in einem deutschen Gefängnis absitzen soll, lässt sich nicht rechtfertigen – jedenfalls ab einem bestimmten Zeitpunkt, der im Fall Krassikow für Kritik sorgt.
Zu jedem Normzweck gibt es in der Regel ein Gegengewicht, die Norm repräsentiert dann das Ergebnis der Abwägung. Dieses Gegengewicht bildet der staatliche Strafanspruch. Der hat seine Wurzeln in einem altbekannten Zweck des Strafens schlechthin: Sühne oder Vergeltung. Oder moderner formuliert: Der Schaden, den die Rechtsordnung durch eine Straftat erlitten hat, soll durch den symbolischen Akt der Bestrafung ausgeglichen werden. Das soll das Vertrauen der Bürger in die Geltung der Rechtsordnung stärken. Dabei hilft die Freilassung eines russischen Auftragskillers natürlich nicht. Das liegt aber in der Natur der Sache: der vorzeitigen Freilassung von Straftätern. Erol Pohlreich, Professor für Strafrecht an der Viadrina, nennt § 456a StPO daher eine "Bauchschmerzvorschrift".
Eine Norm, die nicht passt
Das Dilemma ist unausweichlich, denn Ausweisungsinteresse und Strafanspruch korrespondieren. Je schwerer die Straftat ist, wegen der verurteilt wurde, desto schwerer wiegt einerseits das Ausweisungsinteresse und andererseits der Strafanspruch. Die Schwierigkeit, die Freilassung eines verurteilten Straftäters zu rechtfertigen, hängt also nicht von der Schwere der Straftat ab. Im Fall Krassikow war diese heikle Abwägung Aufgabe des Generalbundesanwalts. Seine Bauchschmerzen waren so groß, dass er seine Zustimmung versagte und der Justizminister eine Weisung aussprechen musste.
Der Bundesregierung ging es mit dem Deal aber natürlich nicht um Entlastung der Steuerzahler, sondern um den Austausch von zu Unrecht bzw. unter unverhältnismäßigen Bedingungen inhaftierter Staatsbürger. Dieses ausschlaggebende Motiv bildet jedoch weder der Tatbestand des § 456a StPO ab, noch liegt es der Norm zugrunde. Auch die Ausgangslage ist eine andere: § 456a StPO hat nämlich als Normalfall vor Augen, dass der Impuls von der Ausländerbehörde ausgeht. Eine Person soll ausgewiesen und abgeschoben werden. Da sie aber eine Freiheitsstrafe verbüßt, muss erst die Vollstreckung ausgesetzt werden. Das Ziel ist Abschiebung, die Strafaussetzung notwendiger Zwischenschritt. Bei einem Gefangenaustausch ist es umgekehrt: Um seinen Teil des Deals zu erfüllen, muss der Vollzug der Strafe ausgesetzt werden. Damit das möglich wird, muss die Ausweisung angeordnet werden. Aus zwei unabhängigen Entscheidungen (Ausländerbehörde, Staatsanwaltschaft), wie sie § 456a StPO eigentlich voraussetzt, muss ein orchestriertes Vorgehen werden.
"Solche Gedanken hat man sich 1929 nicht gemacht", sagt Pohlreich gegenüber LTO. "Aber der Wortlaut von § 456a StPO lässt das Vorgehen des Bundesjustizministers zu. Die Frage, ob er zu weit gegangen ist, ist vor allem eine politische." Bedarf für eine Neuregelung sieht er nicht. "Für Ausnahmefälle mit solchem Seltenheitswert kann es gar keine sinnvolle, eigens hierfür geschaffene Regelung geben. Wie sollte die aussehen?" Ähnlich sieht es der Augsburger Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel: Die Vorschrift sei "nicht für solche Fälle gedacht", schreibt er im Verfassungsblog. "Ihre Anwendung auf einen solch außergewöhnlichen Fall muss den Ermessensspielraum daher bis an die Grenzen ausreizen."
Dem BMJ ist diese politische Entscheidung auch nicht leichtgefallen: Den Ausschlag gegeben hätten das "überragende öffentliche Interesse am Schutz von Leben, Gesundheit und Freiheit der in der Russischen Föderation und Belarus Inhaftierten" sowie "außen- und sicherheitspolitische Interessen" Deutschlands, schreibt das BMJ auf LTO-Anfrage.
Die Freipressung der Olympia-Terroristen von 1972
Es ist in der Tat ein außergewöhnlicher Fall – doch es ist nicht das erste Mal in der bundesdeutschen Geschichte, dass Außenpolitik und Justiz so vorgegangen sind, um eigene Staatsbürger zu befreien. Nach der tragischen Geiselnahme der israelischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 und der missglückten Befreiungsaktion saßen drei überlebende palästinensische Terroristen in Bayern in Untersuchungshaft. Wenige Wochen später, am 29. Oktober 1972, entführten palästinensische Terroristen der Bewegung "Schwarzer September" eine Lufthansa-Passagiermaschine aus Syrien auf dem Weg nach Deutschland, um die drei aus der bayerischen Justiz freizupressen. Die Bundesregierung ließ sich noch am gleichen Tag darauf ein und ließ die Inhaftierten frei.
Rechtlich möglich wurde das zum einen, weil die Behörden bereits eine Ausweisung für eine Abschiebung vorbereitet hatten. Zudem wies der damalige bayerische CSU-Justizminister Philipp Held die Staatsanwaltschaft an, die Haftbefehle aufzuheben und die Terroristen freizulassen.
Mitte der 70er Jahre dann der politische Kurswechsel – man wollte als Staat nicht mehr erpressbar sein. Diese Linie zog Bundeskanzler Helmut Schmidt 1977 im Fall der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine "Landshut" durch. Die RAF hatte auf diese Weise versucht, Terroristen aus der Haft freizubekommen.
Nun also wiederum ein Kurswechsel? Das lässt sich nicht absehen – und wird sich hoffentlich nicht allzu schnell zeigen. Klar ist jedoch: Im Fall von Wadim Krassikow lief es in etwa genauso wie 1972 bei den Olympia-Attentätern. Eine zentrale Rolle spielt(e) dabei die Ausländerbehörde. Grund dafür ist der Verweis in § 456a StPO auf das Aufenthaltsrecht.
Ein Mörder kommt frei, obwohl die Zeit dafür noch nicht reif war
Im Februar 2024 soll die Ausländerbehörde Straubing Kontakt zu Krassikow aufgenommen haben, berichtet der Spiegel. Sie bereitete seine Abschiebung vor. Die Behörde sei aus eigener Initiative tätig geworden, wie ein Sprecher der Stadt auf LTO-Anfrage mitteilte. Im April war es soweit, die Ausreiseverfügung wurde erlassen. Die Begründung erfolgte entsprechend auf Grundlage des § 53 Abs. 1 AufenthG: Krassikow gefährde "die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland", soll das Amt in seinem Bescheid argumentiert haben, aus dem der Spiegel zitiert. Krassikow wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und da – wegen "Erschütterung des Rechts- und Sicherheitsgefühls der Bevölkerung" – die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde, wog das Ausweisungsinteresse besonders hoch.
Allerdings muss das kehrseitig auch für das Interesse an Strafe gelten, nämlich – je nachdem, wie man es nennen mag – an Sühne, Vergeltung oder Rehabilitation der Rechtsordnung. Auch und gerade deshalb stellt sich die Frage nach dem angemessenen Zeitpunkt der Freilassung.
Da die Norm weder die Abwägungskriterien noch den Zeitpunkt regelt, ab dem der Strafanspruch hinter dem Ausweisungsinteresse zurücktritt, haben die Bundesländer dazu sogenannte Runderlasse. Die fallen von Land zu Land etwas anders aus. Jedenfalls für Gewaltverbrechen kommt eine Aussetzung nicht schon zur Halbzeit in Betracht. Bei Mord, festgestellter besonderer Schwere der Schuld oder wenn der Täter speziell zur Tatbegehung eingereist ist, nähert sich der Zeitpunkt eher dem letzten Drittel der Strafe, so konkret in Bayern.
Wadim Krassikow wurde Ende 2021 verurteilt und war damit noch weit von dieser Zeitmarke entfernt. In seinem Fall wurde mit der Entscheidung eben gegen eine Präzisierung in einem Runderlass verstoßen, nicht aber gegen ein Gesetz. Zugleich zeigt das Vorgehen, dass der Deal auf jeden Fall möglich gemacht werden sollte.
Pohlreich hält das im Ergebnis für unproblematisch. Auch diese Runderlass-Regelung passe hier nicht so richtig. "Wann ist Halbzeit bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe?", fragt er. Zudem betont der Strafrechtler, dass es sich bei dem Runderlass eben nicht um eine verbindliche Regelung mit Außenwirkung handle, von der nie abgewichen werden dürfe.
So verbleibt bei vielen ein Störgefühl. Das liegt in der Natur einer Reststrafenaussetzung, es ist jedoch umso größer, je früher man einen "Staatsterroristen" in die Freiheit entlässt.
EGMR: Warum der Staat verpflichtet ist, Mörder konsequent zu verfolgen
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat schon zur Frage entschieden, wann Staaten ausnahmsweise von der Strafvollstreckung gegenüber Mördern absehen können. "Der EGMR leitet aus dem Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) staatliche Schutzpflichten ab, die auch die effektive Aufklärung und Verfolgung von Tötungshandlungen betreffen", sagt Robert Esser, Strafrechtsprofessor an der Uni Passau. Staaten müssten deshalb taugliche gesetzliche Vorschriften im materiellen Strafrecht und im Verfahrensrecht schaffen, und eine effektive Strafverfolgung garantieren, so Esser auf LTO-Anfrage. Ein plötzlicher Abbruch im Vollzug einer Gefängnisstrafe laufe Gefahr, diesen Anspruch zu konterkarieren.
"Die Abschiebung eines verurteilten Straftäters und eine dadurch wissentlich bewirkte 'faktische' Straflosigkeit dürften ebenfalls in diesem Kontext zu verorten sein, völlig unabhängig davon, ob sie im Rahmen eines Gefangenenaustausches stattfinden." Die staatliche Pflicht zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit seiner Bürger oder sonstiger Personen, die sich auf dem Staatsgebiet aufhalten, kann so mit sich selbst kollidieren: Einerseits muss der Staat laut EGMR durch effektive Strafverfolgung Prävention gegen Kapitalverbrechen betreiben: Potenzielle Täter müssen abgeschreckt, weiterhin gefährliche Verurteilte ggf. sicherungsverwahrt werden. Andererseits muss der Staat zu Unrecht im Ausland inhaftierte Bürger vor Folter oder Todesstrafe bewahren. Eine "Verrechnung" dieser Schutzpflichten im Wege der Abwägung ist laut Esser "nur dann denkbar, wenn die den Gefangenen im Ausland plausibel drohenden Gefahren für ihr Leben hinreichend konkret sind".
Der § 153d – eine Vorlage zur Ablösung des § 456a StPO?
Folgt man diesen Schlussfolgerungen aus der EGMR-Rechtsprechung, spricht einiges dafür, den Konflikt zwischen Strafanspruch und Außenpolitik an anderer Stelle als in dem dafür nicht vorgesehenen § 456a StPO zu regeln. Ohne Frage: Ein mit einem Gefangenendeal verbundenes Dilemma bleibt ein Dilemma, daran würde auch eine konkrete Ausnormierung bis ins letzte Detail nichts ändern. Allerdings entspricht es dem Verständnis einer funktionierenden Gewaltenverschränkung, einen solchen Deal auf ein Gesetz zu stützen, dessen Gesetzgeber dieses Dilemma auch vorhergesehen hat.
Und so ganz fremd ist dem Strafrecht eine Öffnungsklausel für politische Entscheidungen zulasten der Strafverfolgung nicht. Eine solche Vorschrift findet sich bislang nur, aber immerhin im Abschnitt über das Ermittlungsverfahren: § 153d StPO erlaubt der Ermittlungsbehörde, das Verfahren einzustellen, wenn sonst eine Gefahr für die Bundesrepublik besteht. Eine Vorlage für eine entsprechende Regelung im Abschnitt über die Strafvollstreckung, etwa einen neuen § 456b StPO?
Auch der 153d StPO schreibt keine Kriterien oder einen Zeitpunkt vor, lässt also Spielraum für die notwendige Beweglichkeit bei einem diplomatischen Deal. Zugleich macht die Gesetzesvorschrift allein durch ihre Existenz deutlich: Dieser Ausnahmefall kann vorkommen und der demokratisch legitimierte Gesetzgeber hat ihn – wenn auch nur vage – vorhergesehen. Letztlich kommt es auch für eine Norm wie 153d StPO auf die konkrete Begründung an, um die Schmerzen im Rechtsstaat jedenfalls zu begrenzen.
Gefangenenaustausch mit "Tiergartenmörder": . In: Legal Tribune Online, 13.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55204 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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