Die Richter des BVerfG hatten wieder einmal Akten zur Sicherungsverwahrung auf ihren Schreibtischen. Es geht um die weitere Unterbringung eines Sexualstraftäters; die Richter des LG Arnsberg wollten ihn weiter sicherungsverwahren, das OLG ihn Ende 2011 entlassen. Nun soll das LG neu entscheiden und bekommt aus Karlsruhe ominöse Hinweise, wie Johannes Feest erklärt.
Erneut hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über ein dort allzu bekanntes Problem zu urteilen. Es ging um einen so genannten "Altfall" der Sicherungsverwahrung. Zu entscheiden war über einen Täter, dessen Strafe wegen sexueller Nötigung, sexuellen Missbrauchs von Kindern und Vergewaltigung bereits 1999 verbüßt war, und der sich anschließend in Sicherungsverwahrung befand.
Nach ursprünglicher Rechtslage hätte der Verwahrte nach zehn Jahren, also im Jahre 2009 entlassen werden müssen. Allerdings war diese Grenze bereits im Jahre 1998 vom Gesetzgeber aufgehoben worden und zwar rückwirkend. Dies hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 (Az. EGMR Nr. 19359/04) zu einem Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention erklärt. Die Richter aus Straßburg bemängelten unter anderem die rückwirkende Aufhebung der Höchstgrenze. Diese gelte nicht nur für Strafen, sondern auch für Maßregeln, soweit diese faktisch Strafcharakter haben.
Auf die drohende Entlassung von ca. 100 Verwahrten, denen von Sachverständigen fortbestehende Gefährlichkeit attestiert wurde, reagierten sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Am 1. Januar 2011 trat das eilends geschaffene Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) in Kraft, welches bestimmt, dass bei fortbestehender erheblicher Gefahr eine weitere Unterbringung durch die Zivilgerichte veranlasst werden kann, wenn eine "psychische Störung" festgestellt wird.
Das BVerfG befand am 4. Mai 2011 (Az. 2 BvR 2365/09), dass bis Ende des Jahres 2011 alle "Altfälle" freigelassen werden müssen, wenn nicht eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten und eine psychische Störung im Sinne des ThUG festgestellt wird. Um die Folgen dieser neuen Rechtslage ging es im nun vom höchsten deutschen Gericht entschiedenen Fall.
Der Zug durch Gutachten und Instanzen
Im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht (LG) Arnsberg ordneten die Strafrichter nach Anhörung von Sachverständigen am 16.Juni 2010 die Fortdauer der Verwahrung an (Az. IIIStVK 608/08). Währenddessen hatte der Leiter der Justizvollzugsanstalt Werl ein Verfahren nach dem ThUG vor dem dafür zuständigen Zivilgericht eingeleitet. Die Zivilrichter holten weitere Gutachten ein, doch eine Entscheidung in dieser Sache steht noch aus.
Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm wiederum hob das Urteil des Arnsberger Gerichts am 9. Juni 2011 auf und ordnete die Entlassung zum 19. Dezember 2011 an (Az. III - 4 Ws 207/10). Dies nicht, ohne ein weiteres Gutachten über den Straftäter in Auftrag gegeben zu haben. Die Hammer Richter schlossen sich den beiden Sachverständigen an, die eine psychische Störung im Sinne des ThUG verneint hatten.
Weder LG noch OLG haben die Karlsruher Anforderungen beachtet
Karlsruhe hob die Beschlüsse sowohl des LG Arnsberg als auch des OLG Hamm auf. Das BVerfG wies die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurück (Beschl. v. 15.09.2011, Az. 2 BvR 1516/11).
Seine Begründung war, dass die Entscheidungen nicht den neuen, vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 niedergelegten Anforderungen genügten und den Beschwerdeführer daher in seinen Grundrechten verletzten. Die 3. Kammer des Zweiten Senats hob auch die Entscheidung des OLG Hamm auf, weil dieses, hätte es richtig geprüft, unter Umständen die sofortige Freilassung des Betroffenen hätte veranlassen müssen, also nicht erst zum 19. Dezember 2011.
Wie es scheint, tun sich die deutschen Gerichte schwer, wenn es um Fragen der Beendigung der Sicherungsverwahrung geht. Der Beschwerdeführer hätte eigentlich im Jahre 2009 entlassen werden müssen, legt man die Rechtsprechung des EGMR zugrunde. Nach der Entscheidung des OLG Hamm müsste er am 19. Dezember 2011 entlassen werden. Im Ergebnis wird es wohl nach keiner Auffasssung mit der Entlassung etwas werden.
"Psychische Störung": Rechtliche Beurteilung der Tatsachen obliegt allein den Gerichten
Denn das Bundesverfassungsgericht gibt am Ende seiner Entscheidung einige ominöse Hinweise: Das OLG Hamm habe Sinn und Tragweite der Senatsentscheidung vom 4. Mai 2011 "verkannt".
Der Begriff "psychische Störung" im Sinne des ThUG sei nach dem Willen des Gesetzgebers unabhängig "vom Vorliegen einer im klinischen Sinne behandelbaren Krankheit". Letztlich decke der Begriff "ein breites Spektrum von Erscheinungsformen ab, von denen nur ein Teil in der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis als psychische Erkrankung gewertet werde".
Es handle sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit den überkommenen Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich sei. Auch wenn die Frage, ob eine psychische Störung in diesem Sinne vorliegt, nur auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens zu beantworten sei, obliege "die rechtliche Beurteilung der von Sachverständigen ermittelten medizinischen oder psychologischen Tatsachen allein den Gerichten".
Dies alles ist juristisch vollkommen nachvollziehbar abgeleitet. Aber letztlich muss das LG Arnsberg die Entscheidung so verstehen, dass es selbst die Definitionsmacht über den Begriff der psychischen Störung hat. Die Richter müssen ihre ursprüngliche Entscheidung lediglich besser begründen.
Umgehung und Verwirrung statt echter Neuordnung
Schleierhaft bleibt indes, wozu man dann noch ein Heer von Sachverständigen braucht. Ob der EGMR es akzeptieren wird, dass Deutschland weiterhin Freiheitsentzug weit über den ursprünglich festgesetzten Zeitraum hinaus betreibt, ist eine andere Frage. Aber bis zu einer erneuten Entscheidung aus Straßburg dürften für diesen und andere Betroffene weitere Jahre ins Land gehen.
Zuletzt stellt sich aber auch die Frage, ob mit der Hilfskonstruktion des BVerfG, den Begriff der "psychischen Störung" aus dem ThUG zu entnehmen und zur Fortdauer der Sicherungsverwahrung zu verwenden, überhaupt noch Spielraum für direkte Einweisungen in eine therapeutische Institution nach dem ThUG übrig bleibt.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die bislang unternommenen Versuche, die Entscheidungen des EGMR zu unterlaufen, zu immer neuen Verwicklungen und Verwirrungen führen müssen. Vor weiterer Flickschusterei wäre es daher empfehlenswert, - ganz altmodisch - eine unabhängige Kommission einzuberufen mit dem Auftrag, Vorschläge zur wirklichen Neuordnung dieses politisch aufgeladenen Feldes zu entwickeln.
Der Autor Prof. Dr. Johannes Feest leitet das Strafvollzugsarchiv an der Universität Bremen. Er ist Professor i.R. für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht an dieser Universität.
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Johannes Feest, BVerfG erneut zur Sicherungsverwahrung: . In: Legal Tribune Online, 08.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4501 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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