Das OLG München hat Vertretern der Nebenkläger das Urteil im NSU-Prozess zugesandt. Nun üben neunzehn Rechtsanwälte, die Angehörige der Opfer vertreten haben, scharfe Kritik an der Begründung.
Das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) München im NSU-Prozess sei "formelhaft, ahistorisch und kalt". Das schreiben neunzehn Rechtsanwälte aus mehreren deutschen Städten in einer Presseerklärung. "Der Umfang von 3.025 Seiten soll verschleiern, dass der Senat unter Vorsitz von Manfred Götzl seiner Aufgabe der Wahrheitsfindung und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht gewachsen war," heißt es weiter.
Das OLG München hatte das schriftliche Urteil in der vergangenen Woche – einen Tag vor dem Ende der Frist – bei der Geschäftsstelle hinterlegt. Zugestellt wurde es aber zunächst nur den Verteidigern und der Staatsanwaltschaft als Revisionsführer. Am Mittwoch und am Donnerstag wurde das Urteil nun auch Vertretern der Nebenkläger zugestellt.
Besonders scharf kritisieren die Anwälte den formelhaften Aufbau des Urteils: "Immer wiederkehrende Textbausteine, die über Seiten gehen, erzeugen künstliche Länge." Das Urteil gebe "noch nicht einmal das ansatzweise" wieder, was die Beweisaufnahme ergeben habe. "Diese Art der Urteilsabfassung spiegelt wider, dass die Richter des Oberlandesgerichts München kein Interesse an einer Aufklärung, noch nicht einmal im Rahmen der Anklage hatten und den Betroffenen mit hässlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen," heißt es in der Presseerklärung.
In der Urteilsbegründung heißt es etwa über die neun Männer mit Migrationshintergrund, die zwischen 2002 und 2006 vom NSU ermordet wurden jeweils, das Opfer gehöre "aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung" zu der "von den drei Personen ausländerfeindliche-rassistisch definierten Opfergruppe". Die Sätze sind wortgleich, lediglich der Name wird ausgetauscht. Das Urteil beschreibe die Ermordeten als "austauschbare Statisten" und reproduziere damit die rassistischen Stereotype des NSU, so die Anwälte der Hinterbliebenen. Das Gericht erwähne nicht, dass die Opfer "Familienväter waren, die Ehefrauen, Kinder, Eltern und Geschwister hinterließen".
"Aufklärung des NSU-Komplex muss weitergehen"
Die Urteilsbegründung "stützt sich auf die – nicht nur von Seiten der Nebenklage seit langem als grundfalsch erkannte – Behauptung von Sicherheitsbehörden und der Bundesanwaltschaft, dass der NSU nur aus drei abgeschotteten Personen bestanden habe," heißt es weiter. Weder die Nachrichtendienste und erst recht nicht ihre bis heute immer noch nicht aufgeklärte Rolle bei Entstehung und Fortbestand des NSU werden in dem Urteil auch nur angesprochen, geschweige denn die Vernichtung von Beweismitteln durch diese Behörden."
Die Anwälte kritisieren zudem den Teilfreispruch für André Eminger als nicht nachvollziehbar, lebensfremd und widersprüchlich. Es sei nicht nachvollziehbar, dass das Gericht Zschäpes Eminger entlastende Behauptungen glaubt, "wenn es gleichzeitig feststellt, dass es Zschäpes Rolle im NSU war, alle mit den Taten des NSU und dessen Unterstützern in Zusammenhang stehende Beweismittel zu vernichten."
Die Anwälte fordern, die Aufklärung des NSU-Komplexes müsse weitergehen. Sie fordern auch, sämtliche Akten – die Gerichtsakte, die Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft und die Akten, die den 13 parlamentarischen Untersuchungsausschüssen vorgelegen haben – zentral zu archivieren und sie Juristen, Journalisten und Wissenschaftlern zugänglich zu machen.
aka/LTO-Redaktion
Anwälte der Nebenkläger kritisieren NSU-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 30.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41482 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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