Wie aus einem Zeugen ein Angeklagter wurde, wie deutsche Ermittler an Beweise zu fernen Tatorten kommen. Die Beendigung des kleineren Teils des Al-Khatib-Verfahrens hat enorme internationale Bedeutung, meint Christoph Safferling.
Der Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) Koblenz, dessen erster Teil heute zu Ende gegangen ist, hat historische Bedeutung. Zum ersten Mal weltweit wurde in einem Strafverfahren festgestellt, dass in Syrien friedliche Demonstrationen staatlicherseits systematisch mit brutaler Gewalt niedergeschlagen und vermeintliche oder tatsächliche Oppositionelle willkürlich verhaftet, gefoltert und ermordet worden sind. Seit dem Nürnberger Prozess gibt es hierfür einen Namen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Anwar R. und Eyad A., zwei ehemaligen Funktionären des syrischen Allgemeinen Geheimdienstes wird vorgeworfen, auf Befehl und im Namen des Diktators Baschar al-Assads gefoltert und getötet zu haben. Erst vor wenigen Wochen hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einem anderen Verfahren verdeutlicht, dass es auch für Funktionsträger eines anderen Staates keine Immunität vor deutschen Gerichten gibt. Seit 23. April 2020 wurde vor dem Staatsschutzsenat in Koblenz verhandelt. Nach nur 60 Verhandlungstagen ist das Verfahren gegen einen der Angeklagten, Eyad A., das vor wenigen Tagen abgetrennt worden war, entscheidungsreif. Er wurde heute wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 Abs. 1 Nr. 5 (Folter) und Nr. 9 (Freiheitsberaubung) Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Eyad A. war Mitarbeiter der berüchtigten Unterabteilung 40 der Abteilung 251 des syrischen Geheimdienstes im Rang eines Hauptfeldwebels. Im Vergleich zum Hauptangeklagten Anwar R. niedriger im Rang wurde er "nur" wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Nicht nur ein Zeuge
Der Prozess basiert auf dem sog. Weltrechtsprinzip nach § 1 VStGB, wonach die internationalen Verbrechen des Völkerstrafgesetzbuchs (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression) in Deutschland unabhängig von Tatort und Nationalität der beteiligten Personen verfolgt und angeklagt werden können. Systematische Folter in einer Haftanstalt des syrischen Geheimdienstes in Damaskus können – und müssen – in Deutschland verfolgt werden, sowie die Verdächtigen nach Deutschland kommen (vgl. § 153f StPO).
Der nun verurteilte Eyad A. kam im Rahmen einer Familienzusammenführung im Jahr 2018 zu seinen Söhnen nach Deutschland. Im Rahmen einer Anhörung im Asylverfahren durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurde die war crimes unit des Bundeskriminalamtes (BKA), spezialisierte Ermittlerinnen und Ermittler für Kriegsverbrechen, auf den Fall aufmerksam und hörte Eyad A. als Zeugen für die Grausamkeiten des syrischen Geheimdienstes an. Das geschah im Rahmen eines Strukturermittlungsverfahrens, in dem – ohne zunächst bekannte Beschuldigte – Beweise für mögliche zukünftige Prozesse oder internationale Zusammenarbeit gesichert werden. Bald wurde klar: man hatte es hier nicht mit einem bloßen Zeugen zu tun, sondern mit einem Mitarbeiter der Schlägertruppe des syrischen Allgemeinen Geheimdienstes.
Wie lassen sich systematische Verbrechen des Assad Regimes beweisen?
Die Beendigung des kleineren Teils des Al-Khatib-Verfahrens hat enorme internationale Bedeutung. Das Assad'sche Folterregime und die brutalen Reaktionen auf die Freiheitsbestrebungen des sog. arabischen Frühlings sind nun – in einem kleinen Ausschnitt des Herbstes 2011 – erstmalig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerichtlich festgestellt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit zeichnen sich vor allem durch ihren systemischen Charakter aus, das heißt die einzelnen Misshandlungen, Tötungen, unrechtmäßigen Freiheitsberaubungen, sexuellen Übergriffe müssen im Kontext eines systematischen oder ausgedehnten Angriffs auf eine Zivilbevölkerung stattgefunden haben. Damit ist nun – wenn auch noch nicht rechtskräftig – zum ersten Mal gerichtlich festgestellt, dass das syrische Regime gezielt und geplant die eigene Bevölkerung unterdrückt und freiheitliche Ideen brutal ausgemerzt hat. Da der Allgemeine Geheimdienst dem Staatspräsidenten Assad direkt untersteht, trifft die Verantwortung ihn direkt.
Das Verfahren vor dem OLG Koblenz, ein Gericht, das bislang eigentlich nicht durch spektakuläre Völkerstrafrechtsprozesse aufgefallen war, zeigt auch, dass derartige Verfahren in Deutschland auf der Grundlage der Strafprozessordnung möglich sind und bei ruhiger und besonnener Prozessführung auch innerhalb eines Jahres zum Abschluss gebracht werden können.
Natürlich war die Beweislage in diesem Verfahren vergleichsweise günstig nicht zuletzt deshalb, weil die berühmt gewordenen Fotos der anonymen Gruppe Caesar, Trägerin des Nürnberger Menschenrechtspreises 2017, forensisch verwertet wurden. Diese Fotos, die 2014 aus Syrien herausgeschmuggelt worden waren, zeigen Opfer von Folterungen aus Gefängnissen des Geheimdienstes. Mittels eines rechtsmedizinischen Gutachtens waren die Fotos in den Prozess eingeführt worden. Die Verwertung derartiger Aufnahmen ist wichtig: Die Beweisführung in einem Völkerstrafprozess mit einem Schauplatz, der nicht nur weit entfernt ist, sondern auch aus anderen Gründen für das Gericht unerreichbar ist, ist eine große Herausforderung. Wenn nicht nur mit Zeugen, sondern auch mit Bildmaterial, das – möglicherweise anonym – im Rahmen von sog. Open Source Intelligence aus dem Internet, vielleicht sogar über die verschlüsselten Kanäle des Darknets, den Strafverfolgern in die Hände gefallen ist, gearbeitet werden kann, kann dies die Wahrheitssuche bei sorgfältigem Umgang mit Authentizitätsfragen unterstützen.
Kann sich der Angeklagte auf Nötigungsnotstand berufen?
Eine weitere prozessual bedeutsame Frage war die Verwertung der Aussagen des Angeklagten vor den BKA-Ermittlern. Eine Belehrung als Beschuldigter war beim BKA unterblieben. Hier hatte bereits der BGH im Haftbeschwerdeverfahren festgestellt (Beschl. v. 6.6.2019 – StB 14/19), dass die Aussage nicht insgesamt unverwertbar ist. Die Vernehmungsbeamten hätten aber ab dem Moment die Belehrung als Beschuldigter vornehmen müssen, als der Vernommene bekundete, selbst Mitarbeiter der Unterabteilung 40 der Abteilung 251 gewesen zu sein, von deren Verhaftungspraxis, Misshandlungen und Tötungen er zuvor ausführlich berichtet hatte.
Die Rolle des Angeklagten war den Ermittlern zu diesem frühen Zeitraum auch deshalb unklar, weil er als Verfolgter nach Deutschland gekommen war und hier um politisches Asyl ersucht hatte. Damit stellte sich im Prozess die Frage, ob sich der Angeklagte als reiner Befehlsempfänger auf § 35 Strafgesetzbuch (StGB) – Nötigungsnotstand – berufen konnte, wie die Verteidigung vorgetragen hatte. Auch wenn der Angeklagte in den Wirren des späteren Bürgerkrieges dissertierte, hat er nicht nur lange auf seiner Position in der Schlägertruppe des syrischen Geheimdienstes freiwillig ausgeharrt, sondern sich auch im Jahr 2011 wieder genau dorthin zurückversetzen lassen. Anlass für § 35 StGB sieht der OLG-Senat deshalb nicht, im Gegenteil: Dieses Verhalten wirkt strafschärfend. Der Senat kommt dem Angeklagten aber dennoch ein Stück entgegen: Wegen der Eingliederung in eine strikt hierarchische Befehlsstruktur sieht der Koblenzer Staatsschutzsenat einen minder schweren Fall nach § 7 Abs. 2 VStGB. Die Mindeststrafe für Folter liegt damit nicht mehr bei fünf Jahren, sondern bei zwei Jahren.
Ein überraschender Milderungsgrund
Es ist ein wenig überraschend, dass ein weiterer Milderungsgrund angenommen wurde: § 46b StGB. Diese 2009 eingeführte Kronzeugenregelung für Schwerkriminalität hat sich bislang nicht als zentrales Mittel für die Kriminalitätsbekämpfung erwiesen. Seit 2015 hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die Vorschrift auch nur dann greift, wenn zwischen der Tat des Angeklagten und der Tat, zu deren Aufdeckung er beiträgt, ein Konnex besteht. Andererseits kann die Vorschrift dann nicht greifen, wenn es sich um die angeklagte Tat selbst handelt. Hier könnte man sich fragen, was alles von dem Vorwurf Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfasst ist. Der Senat sieht in dem Umstand, dass Eyad A. Angaben gemacht hat, die letztlich zur Anklage gegen Anwar R. geführt haben, einen hinreichenden Grund für die Milderung nach dieser Vorschrift.
Dieser Prozess gegen Anwar R. wird am 10. März fortgeführt. Ein Ende wird aber auch noch für diese Jahr erwartet. Im momentan kritischen Zustand der Internationalen Strafjustiz ruhen die Hoffnungen auf Gerechtigkeit für die Opfer von Systemverbrechen auf den nationalen Strafverfolgungsbehörden und damit in Deutschland vor allem auf dem Generalbundesanwalt. Dass dort diese Aufgabe ernst genommen wird, ist lobenswert. Deutschland ist kein sicherer Hafen für Folterknechte und Kriegsverbrecher. Je mehr Staaten diese Aufgabe ähnlich ernst nehmen, desto deutlicher die Botschaft: Keine Straflosigkeit für Menschlichkeitsverbrechen.
OLG-Koblenz zu Staatsfolter in Syrien: . In: Legal Tribune Online, 24.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44351 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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