Auf ihrem Gipfeltreffen in Chicago stellte die NATO nationale Einsatzvorbehalte für Militäroperationen in Frage. Vor allem Deutschland soll seinen Parlamentsvorbehalt lockern. Das aber wird mit Bundesverfassungsgericht und Bundestag nicht zu machen sein, meinen Robert Frau und Manuel Brunner.
Die Chefs der NATO-Staaten wollen verhindern, dass bei Auslandsoperationen einzelne Verbündete gemeinsam genutzte Einheiten und Waffensysteme blockieren können. Hintergrund ist, dass in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise auch die Verteidigungshaushalte leiden. Das betrifft die NATO-Mitgliedstaaten wie viele andere auch. Sparen ist das Gebot der Stunde.
Gleichzeitig werden aber Entwicklung und Kauf moderner Militärtechnologie immer teurer. Großprojekte wie die "Alliance Ground Surveillance" und andere Smart-Defense-Projekte verschlingen Milliarden, die anderweitig eingesetzt werden könnten.
Die NATO versucht daher, nationale Alleingänge zu vermeiden und bestimmte Projekte auf eine breitere Grundlage zu stellen. Solche Großprojekte sollen in Zukunft gemeinsam finanziert, allgemein sollen immer mehr Waffensysteme von den Verbündeten gemeinschaftlich genutzt und betrieben werden.
Der deutsche Parlamentsvorbehalt und die Pläne der Regierung
Besonders Deutschland geriet - wie schon desöfteren innerhalb des nordatlantischen Bündnisses - wegen seines bestehenden wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehaltes in die Kritik. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte diesen im Jahr 1994 aus der Taufe gehoben (st. Rspr. seit Urt. v. 12.07.1994, Az. 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93). Der Parlamentsvorbehalt, der sich im Verfassungstext nicht findet und daher von jeher umstritten ist, besagt, dass grundsätzliche jeder bewaffnete Einsatz der Bundeswehr im Ausland konstitutiv der Zustimmung des Bundestages bedarf.
In der Staatspraxis ist allerdings noch kein geplanter Auslandseinsatz der deutschen Streitkräfte an einem ablehnenden Votum der Volksvertreter in Berlin gescheitert. In der Bundesregierung existieren trotzdem bereits seit längerem Pläne, um den Vorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu lockern. Durch die Diskussionen von Chicago haben sie neue Nahrung erhalten. Es steht vor allem der Vorschlag im Raum, das Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBetG) aus dem Jahre 2005 zu ändern. Dieses formt die durch das BVerfG aufgestellten Grundsätze der Parlamentsbeteiligung einfachgesetzlich aus.
§ 1 Abs. 2 ParlBetG statuiert dann auch ganz klar, dass der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes der Zustimmung des Bundestages bedarf. Das Gesetz nimmt in § 2 Abs. 2 nur ganz wenige Situationen aus dem Begriff des "Einsatzes" aus. Dies sind zum Beispiel rein vorbereitende Maßnahmen und Planungen.
Keine Änderung gegen Karlsruhe
Selbstverständlich kann das ParlBetG im normalen Gesetzgebungsverfahren den Bedürfnissen der Bündnispolitik der NATO angepasst werden. Es ist aber unwahrscheinlich, dass eine Aufweichung seiner Vorschriften einer Überprüfung in Karlsruhe standhalten würde. Immerhin war es das BVerfG, welches das gesamte Parlamentsbeteiligungsrecht quasi im Alleingang schuf und in ständiger Rechtsprechung ausbaute.
Zwar sahen die Karlsruher Richter in ihrer Rechtsprechung die Bündnisfähigkeit Deutschlands als einen wichtigen Belang des (Wehr-)Verfassungsrechts an. Für sie steht aber die demokratische Legitimation der Auslandseinsätze im Vordergrund. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2008 (Urt. v. 07.05.2008, Az. 2 BvE 1/03) betonte das höchste deutsche Gericht dann auch, wegen der politischen Dynamik eines Bündnissystems sei es besonders wichtig, dass über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die gewählten Volksvertreter entscheiden.
Den Zusammenhang zwischen Demokratie und Auslandseinsätzen hob das BVerfG auch in seinem umstrittenen Lissabon-Urteil aus dem Jahr 2009 (Urt. v. 30.06.2009, Az. 2 BvE 2/08, 5/08, 2 BvR 1010/08, 1022/08, 1259/ und 182/09) nochmals hervor. Es wertete den Parlamentsvorbehalt in diesem Verdikt sogar so stark auf, dass er zu dem durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten, unantastbaren Kern der grundgesetzlichen Verfassungsidentität gehören soll.
Lockerung des Parlamentsvorbehaltes eher unwahrscheinlich
Schließlich könnte eine entsprechende Gesetzesänderung wahrscheinlich schon gar nicht unproblematisch das Parlament passieren. Bereits kurz nach dem Bekanntwerden der NATO-Pläne zur Abschwächung der nationalen Einsatzvorbehalte zeigten viele Bundestagsabgeordnete quer durch die Fraktionen Unmut und offene Ablehnung.
Der einzige verfassungsrechtlich gangbare Weg, um den Parlamentsvorbehalt zu lockern, ist wohl seine Aufnahme in das geschriebene Verfassungsrecht mit den bündnispolitisch erforderlichen Anpassungen.
Allerdings ist es angesichts der Reaktionen der Parlamentarier verfassungspolitisch kaum denkbar, dass die dazu erforderliche Zweidrittelmehrheit zustande käme. Die Abgeordneten werden sich in der heiklen Frage der Auslandsentsendung deutscher Streitkräfte nicht so einfach ihre Rechte beschneiden lassen.
Dr. Robert Frau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Manuel Brunner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Leibniz Universität Hannover.
Robert Frau, Auslandseinsätze der Bundeswehr: . In: Legal Tribune Online, 24.05.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6257 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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