Der VerfGH Nordrhein-Westfalen hat der Landesregierung vorläufig den Kredithahn zugedreht, eine endgültige Entscheidung soll im Mai kommen. Der Beschluss löst heftige Reaktionen in der Landespolitik aus. Aber auch verfassungsrechtlich könnten die Richter Zeichen setzen. Sebastian Roßner über eine mögliche Revolution.
Ob auf Bundes-, Länder- oder kommunaler Ebene: Die Finanzen sind ein Dauerthema, ständig steigende Kreditaufnahmen der Regelfall. Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster (VerfGH NRW) sorgt da mit seiner einstweiligen Anordnung vom Dienstag für Aufruhr: Er untersagte der Landesregierung vorläufig, weitere Darlehen gestützt auf das Nachtragshaushaltsgesetz 2010 aufzunehmen oder bereits aufgenommene Kredite auszugeben. Das ist nicht nur politisch und wirtschaftlich ein Paukenschlag.
Nach den Landtagswahlen 2010 und dem Wechsel von der schwarz-gelben Regierung Rüttgers zur rot-grünen Minderheitsregierung Kraft hat der neu gewählte Landtag im vergangenen Dezember ein Nachtragshaushaltsgesetz verabschiedet, welches das Volumen des Landeshaushalts um etwa drei Milliarden Euro erhöht.
Die geplanten Mehrausgaben sollen in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro durch zusätzliche Kredite finanziert werden. Diese Ermächtigung zur Aufnahme zusätzlicher Kredite ist der Stein des verfassungsgerichtlichen Anstoßes.
Das Problem liegt dabei in der Junktimklausel von Art. 83 S. 2 Landesverfassung (LV) NRW. Die Vorschrift bindet die Aufnahme neuer Kredite an die Höhe der neu getätigten Investitionen. Diese Regelung will zunächst dauerhaft dem Staatsbankrott vorbeugen, indem sie durch die Koppelung von Investitionen und Kreditaufnahme stets eine ausreichende Haftungsmasse des Staates garantiert.
Daneben steht der weniger scharf umrissene Zweck, die zukünftige Politik nicht durch allzu hohe Schulden aus der Vergangenheit zu belasten. Aus verschiedenen Gründen sollen also zukunftsbelastende Einnahmen (Kredite) durch zukunftsbegünstigende Ausgaben (Investitionen) kompensiert werden. Die Nettoneuverschuldung wird also durch die Neuinvestitionen begrenzt. Gemäß dem Nachtragshaushaltsgesetz 2010 hätte aber die Nettoneuverschuldung die Summe der veranschlagten Investitionen um etwa 4,5 Milliarden Euro übertroffen.
Höhere Kredite bei Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
Ein Tor steht der Politik in einer solchen Lage aber offen, um der strengen Begrenzung der Kreditaufnahme zu entkommen: Sie kann annehmen, dass das "gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht" gestört ist. Ist das der Fall, darf die Kreditaufnahme die Neuinvestitionen übersteigen, Art. 83 S. 2 LV NRW.
Die Crux des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" liegt darin, dass es sich um einen inhaltlich umstrittenen Begriff der Volkswirtschaftslehre handelt, von dem niemand so recht eine Definition zu geben vermag. Immerhin herrscht verfassungsrechtlich weitgehend Einigkeit über vier Elemente, die das Gleichgewicht kennzeichnen:
1. Preisstabilität
2. hohes Beschäftigungsniveau
3. ausgeglichene Außenhandelsbilanz
4. stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum
Unklar sind aber die jeweils akzeptablen Werte und das Verhältnis der einzelnen Größen zueinander. So ist zum Beispiel nicht eindeutig, ob etwa ein höheres Wirtschaftswachstum eine geringere Preisstabilität rechtfertigen kann. Die Landesverfassung beinhaltet auch keine Definition des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" und hält so den Begriff offen für neue volkswirtschaftswissenschaftliche Einsichten beziehungsweise andere politische Prioritätensetzungen.
Schulden im Bund und in den Ländern – was die Junktimsklauseln bringen
Das Bundesverfassungsgericht hat daraus die Konsequenz gezogen, dass bei der Auslegung der entsprechenden, bis 2009 gültigen Parallelregelung auf Bundesebene in Art. 115 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) a.F. ein Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers bestehe. Von einer inhaltlichen Kontrolle durch die Gerichte sei daher weitgehend abzusehen.
Das Gericht bürdete dem Gesetzgeber jedoch umfassende Darlegungslasten auf: Er müsse darlegen, worin die Störung bestehe und begründen, inwiefern die erhöhte Kreditaufnahme geeignet sei, diese zu beheben.
Die öffentlichen Haushalte des Bundes wie auch der meisten Länder zeigen freilich, dass die Junktimklausel die Neigung der Politik, ungehemmt Schulden zu machen, bisher kaum ausbalancieren konnte. Auf Bundesebene hat der Verfassungsgesetzgeber daraus die Konsequenz gezogen, Art. 109 und 115 GG neu zu fassen.
Nach den neuen Regelungen ist der Haushalt grundsätzlich ohne Kredite zu finanzieren, eine Kreditaufnahme ist zwar unter gewissen Voraussetzungen zulässig, aber auf einen bestimmten Bruchteil des Bruttosozialprodukts begrenzt. Die in Art. 109 GG geregelte generelle Abkehr von der Schuldenfinanzierung gilt ab 2020 auch für die Bundesländer.
Stumpfe Schwerter oder große Schritte: Entscheidungsoptionen des VerfGH NRW
Der Verfassungsgerichtshof in Münster hingegen deutet mit seiner einstweiligen Anordnung vom 18. Januar 2011 (VerfGH 19/10) an, bis dahin auf Basis einer schärferen Kontrolle der alten Junktimklausel zu einer Schuldenbegrenzung gelangen zu wollen.
Dabei sind zwei Wege der Kontrolle denkbar: Zum einen könnte das Gericht die Darlegungslasten des Haushaltsgesetzgebers schärfer kontrollieren und im Falle eines Falles ein Haushaltsgesetz an einer mangelhaften Begründung scheitern lassen. Allerdings ist dieses Schwert nicht allzu scharf, da wohl eine taugliche Begründung nachgereicht werden könnte, so dass das Haushaltsgesetz mit dem ursprünglichen Inhalt doch noch zustande käme.
Zum anderen könnte das Gericht daran gehen, inhaltliche Kriterien für eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu entwickeln und anhand dieser zu prüfen, ob materiell die Voraussetzungen einer Abweichung von der Junktimklausel vorliegen.
Davor liegt aber das große Hindernis, eine justitiable und auch praktisch taugliche Definition der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu erarbeiten. Ein solch großer Schritt der Verfassungsrichter auf nicht nur wirtschaftswissenschaftlich, sondern auch politisch umkämpftes Terrain wäre zumindest mutig zu nennen.
Ob der Verfassungsgerichtshof in Münster eine der beiden skizzierten Varianten wählen und damit verfassungsrechtliches Neuland betreten oder sich doch zurückziehen und das Nachtragshaushaltsgesetz passieren lassen wird, entscheidet sich erst mit dem Urteil. Die mündliche Verhandlung hat das Gericht für den 15. Februar anberaumt und angekündigt, innerhalb von drei Monaten entscheiden zu wollen. Man darf gespannt sein, was der Wonnemonat Mai bringen wird.
Der Autor Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für deutsches und europäisches Parteienrecht an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf.
Mehr auf LTO.de:
VGH NRW: Nachtragshaushalt soll vorerst nicht umgesetzt werden
Wahlwerbung durch Wählerinitiativen: Einnahmen der Partei oder aufgedrängte Bereicherung
Politisches Patt in NRW: Nur noch Verwaltung
Sebastian Roßner, Nachtragshaushalt in NRW: . In: Legal Tribune Online, 20.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2373 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag