Nachdem Union und SPD in der vergangenen Legislaturperiode lange darüber gestritten haben, will die neue Große Koalition jetzt eine Musterfeststellungsklage einführen. Burkhard Schneider hält das Konzept allerdings für wenig überzeugend.
Spätestens seit dem Fernsehduell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz im Vorfeld der Bundestagswahl ist ein Zungenbrecher in aller Munde: Die "Musterfeststellungsklage" – umgangssprachlich oft als Sammelklage bezeichnet. In der vergangenen Legislaturperiode konnten sich Union und SPD nicht einigen. Nun soll es möglichst schnell gehen und ein entsprechendes Gesetz bis November 2018 in Kraft treten, damit die Ansprüche von VW-Kunden im Zusammenhang mit der Diesel-Affäre nicht verjähren.
Am Ende hat die Empörung der Autofahrer über die Dieselaffäre zur Überwindung der erheblichen Skepsis in der Politik beigetragen. Den Trend zur bisher vor allem aus dem amerikanischen Recht bekannten Sammelklage stützen die EU-Kommission und verschiedene Ansätze im europäischen Ausland. In den Niederlanden wurde gar ein Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht, der eine echte Class Action ähnlich wie in den USA vorsieht.
Vorweggeschickt: Den Treibstoff der bekannten US-Klägerindustrie bilden Phänomene wie extrem hohe Schadensersatzsummen, Erfolgshonorare für Anwälte, Discovery-Verfahren, in denen Unternehmen interne Unterlagen zur Verfügung stellen müssen und Jury Trials – das alles wird es bei uns auch mit einer Musterfeststellungsklage nicht geben.
Doch die Vorschläge, die nun auf dem Tisch liegen, dürften wenig Probleme lösen und viele neue erzeugen.
Bisher blockierte die Union Vorschläge des Justizministers
Hierzulande gibt es bislang nur das Gesetz über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (KapMuG). Das verdankte seine Entstehung dem Streit um die T-Aktie nach dem Börsengang der Telekom, als die Zivilgerichte mit Klagen wegen angeblicher fehlerhafter Angaben in den Telekom-Prospekten überzogen wurden.
Die SPD hatte weitergehende Schadensersatzklagen für Verbraucher schon 2013 in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben, doch die CDU blockierte Ende 2016 einen entsprechenden Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums. Schließlich schoss Justizminister Heiko Maas einen leicht modifizierten Diskussionsentwurf in die Spätphase des Bundestagswahlkampfs und landete einen Volltreffer: Beide Kanzlerkandidaten machten die Musterfeststellungsklage über Nacht zum Top-Aufsteigerthema.
Nun sieht der Koalitionsvertrag der neuen Großen Koalition vor, durch "die Einführung einer Musterfeststellungsklage die Rechtsdurchsetzung für die Verbraucherinnen und Verbraucher [zu] verbessern". Dabei wolle man "die Klagebefugnis auf festgelegte qualifizierte Einrichtungen beschränken, um eine ausufernde Klageindustrie zu vermeiden" und "bewährte wirtschaftliche Strukturen" nicht zu zerschlagen.
Die Nachteile vorhandener Modelle werden kombiniert
Der Koalitionsvertrag lässt offen, ob die Musterfeststellungsklage nun in der Maas-Version kommt oder als eine Art "Freischaltung" des KapMuG von Kapitalanlageverfahren für alle Rechtsgebiete. Der Hinweis auf qualifizierte klagebefugte Einrichtungen lässt erwarten, dass sich das Maas-Modell durchsetzt.
Dieses Modell kombiniert im Prinzip das KapMuG mit Elementen des Unterlassungsklagengesetz (UKlaG). Das UKlaG erlaubt Verbraucherschutzorganisationen, gegen Geschäftspraktiken und Allgemeine Geschäftsbedingungen zu klagen. Die Verbände können so Tarifanpassungsklauseln von Energieversorgern, Bankgebühren oder die so genannte Zillmerung bei Versicherungen für unwirksam erklären lassen.
Das KapMuG hat sich in der Praxis als schwerfällig erwiesen. Die Telekom-Verfahren laufen seit 2005, die zugrundeliegenden Klagen begannen 2001. Auch das UKlaG ist tückisch. Dabei können leicht Rückzahlungen an Kunden in Millionenhöhe herauskommen. Das geplante Musterfeststellungsklagengesetz in der Maas-Version kumuliert die Nachteile der beiden Mechanismen.
10 Betroffene, 50 Anmelder, ein Verbraucherverein = eine Klage
Der Musterfeststellungsklage würden voraussichtlich massenhafte Gewährleistungsansprüche für Produkte, Reisemängel, Bankgebühren, Mobilfunktarife etc. unterfallen – soweit der Geschädigte Verbraucher ist.
Für ein Musterfeststellungsverfahren muss ein Anspruchsinhaber nicht das Prozessrisiko einer eigenen Klage eingehen. Er kann abwarten, ob ein gesetzlich qualifizierter Verbraucherverein eine Musterfeststellungsklage erhebt, und sich für eine Registrierungsgebühr von zehn Euro anschließen.
Die Massenklage kann nur von Verbrauchervereinen, also nicht von Individualklägern geführt werden. Die im ursprünglichen Entwurf vorgesehene Klagebefugnis für Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern wurde ebenso gestrichen wie Kartellschadensersatzklagen der Spediteure oder der Bahn.
Der Verbraucherverein muss plausibel behaupten, dass die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von mindestens zehn Betroffenen von der Sammelklage abhängen könnten. Weiterhin sollen mindestens 50 so genannte Anmelder für eine Klage erforderlich sein. Das Rennen macht dabei der Klägeranwalt, der als erster die Rechtshängigkeit herbeiführt.
Wenn eine Musterfeststellungsklage erfolgreich ist, droht dem Beklagten eine Welle gleichartiger Folgeklagen aus dem Kreis der Anmelder. Alternativ gibt es die Möglichkeit eines vom Gericht genehmigten Kollektivvergleichs.
Die Opt-in und Opt-out-Rechte sind unfair verteilt
Die Furcht vor verfassungsrechtlich bedenklichen Eingriffen in die Privatautonomie hat beim Gesetzesentwurf zu zahlreichen Opt-in und Opt-out-Rechten geführt.
Das heißt: Ein Anmelder eines Folgeprozesses kann sich auf die Bindungswirkung des Musterurteils berufen – oder den Fall neu aufrollen. Umgekehrt kann der Musterbeklagte nicht auf der Bindungswirkung eines für ihn günstigen Musterurteils bestehen. Beides ist ein klarer Verstoß gegen die prozessuale Chancengleichheit.
Hinzu kommt: Die Musterfeststellungsklage muss ohne mündliche Verhandlung nach einer extrem kurzen Frist von zwei Monaten im Bundesanzeiger bekannt gemacht werden. Sie wird damit für Beklagte kaum zu verhindern sein.
Für Musterfeststellungsverfahren sind schließlich die normalen Zivilkammern der Landgerichte zuständig. Anders als im Rahmen des KapMuG gilt der normale Instanzenzug, was keine Vereinfachung bedeutet. Eine dringend erforderliche Ertüchtigung der Justizinfrastruktur für derartige Verfahren kommt nicht vor. Prozessfinanzierer und amerikanisch geprägte Klägerkanzleien dürften sich das zunutze machen.
Besser wären neue Schlichtungen und Versicherungskonzepte
Die Rechtspolitiker müssten sich ganzheitlich mit dem Thema befassen. Ein wirklich effizienter kollektiver Rechtsschutzmechanismus müsste Bindungswirkung sowohl für die Verbraucher wie auch für die Unternehmen aufweisen.
Zudem müssen das materielle Recht und das internationale Privatrecht in die Betrachtung einbezogen werden. Wenn beispielsweise Dieselfahrer aus allen EU-Mitgliedstaaten sich zu einer Musterklage in Deutschland zusammentun und die Erfinder der Musterfeststellungsklage keine Vorkehrungen getroffen haben, sind 27 Rechtsordnungen vom Landgericht anzuwenden. Das dürfte eher zu Frustration als zum Recht führen.
Schließlich müsste viel Geld investiert werden, um den Gerichten die nötigen organisatorischen, technischen und juristischen Ressourcen zur Verfügung zu stellen und halbwegs erträgliche Verfahrensdauern zu gewährleisten. Das alles ist ein gigantischer Aufwand, zumal es in den meisten Fällen um Bagatell- und Streuschäden ohne existenzbedrohenden Charakter geht.
Wäre den Betroffenen – aber auch den Schädigern – nicht viel schneller und einfacher zu dienen, etwa mit Schlichtungsmechanismen oder Versicherungskonzepten? Im Tempo der globalisierten Welt sind Musterfeststellungsklagen ein Anachronismus.
Der Autor Burkhard Schneider, LL.M., ist Partner der Praxisgruppe Litigation & Dispute Resolution bei Clifford Chance.
Koalitionsvertrag: . In: Legal Tribune Online, 15.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27051 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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