Nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Debatte zeigt sich Bundesjustizminister Maas entschlossen, den Mordparagraphen zu ändern. Es gehe nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie, stellte er unlängst klar. Doch gerade dieses Wie ist seit Jahrzehnten umstritten. Michael Kubiciel skizziert einen hierzulande kaum bekannten Lösungsweg.
Die Frage, ob der Mord eine Qualifikation des Totschlags (so die Lehre) oder ein gänzlich eigenes Delikt (so die Rechtsprechung) ist, gehört zum klassischen universitären Prüfungsstoff im Strafrecht. Eines wird freilich so gut wie nie vertreten: Dass der Mord der Grundtatbestand der Tötungsdelikte und der Totschlag ein Privilegierungstatbestand sei.
Dies läge auch quer zur geltenden Rechtslage und zu eingeübten Denkgewohnheiten. Für die laufende Diskussion um eine Reform des Mordparagraphen birgt der Gedanke jedoch einiges Potential.
Denn auf die Frage, wer ein Mörder ist, muss eine Gesellschaft, die den Einzelnen in ihren Mittelpunkt rückt, antworten: jeder, der einen anderen Menschen rechtswidrig und schuldhaft tötet. Wo der einzelne Mensch und seine Möglichkeit zur Entfaltung das höchste Gut darstellen, da muss das höchste Unrecht in seiner Auslöschung liegen. Ein derartiges, unvergleichlich schweres Unrecht muss die symbolisch und tatsächlich schwerste Strafe nach sich ziehen, welche die Rechtsordnung vorsieht – in Deutschland also die lebenslange Freiheitsstrafe.
Der grundlegende Tötungstatbestand, nennen wir ihn "Mord", lautete dann schlicht: Wer einen anderen Menschen tötet, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Daneben wäre ein Tatbestand, nennen wir ihn Totschlag, vorzusehen, der für außergewöhnliche Fälle mildernder Tatumstände (etwa jenen des heutigen § 213 Strafgesetzbuch) eine Strafmilderung vorsieht.
Grundidee des heutigen § 211 schon lange vor der NS-Zeit erdacht
Diesen Weg hat das deutsche Strafrecht – anders als andere Rechtsordnungen – nicht eingeschlagen. Es beschreitet vielmehr einen deutlich schwierigeren Pfad. Es versucht, Fälle begrifflich zu erfassen, in denen das schwerste Unrecht – die Tötung eines Menschen – gleichsam übersteigert wird, und nennt dieses ganz besondere Tötungsunrecht Mord. Mit diesem Begriff verbinden große Teile der Gesellschaft die Tötung "aus Überlegung" oder "mit Vorbedacht". Dieses aus dem römischen Recht stammende psychologische Modell galt in Deutschland bis 1941. Dabei wurde es bereits seit Einführung des Reichsstrafgesetzbuches heftig kritisiert: Überlegung und Vorbedacht seien psychologische Fakten, hieß es, deren Vorliegen sich forensisch kaum sicher nachweisen lasse. Im Übrigen fielen Überlegung und Vorbedacht mit dem Vorsatz zusammen, ohne dass damit ein vom Totschlag zu unterscheidendes besonderes Tötungsunrecht abgebildet würde.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der schweizerische Kriminalist Stooss eine Alternativkonzeption: Das sogenannte Verwerflichkeitsmodell, das seinen geschichtlichen Ursprung im germanischen Recht hat. Straftheoretisch basiert es auf einem spezialpräventiven, den Täter fixierenden Ansatz, den in Deutschland der berühmte und – politisch gesprochen – liberale Kriminalist Franz von Liszt propagierte. Die germanischen Wurzeln und die Täterfixierung machten die Verwerflichkeitskonzeption auch für den NS-Gesetzgeber interessant. So wurde der Vorschlag von Stooss mit Detailänderungen, namentlich der Einführung „niedriger Beweggründe“ als zusätzlichem Mordmerkmal, ab 1941 geltendes Recht. Ähnliche Regelungen kennt auch das französische und russische Recht.
Angesichts dessen ist es vergröbernd, dem § 211 Strafgesetzbuch (StGB) eine "braune Prägung" vorzuwerfen. Im Übrigen wäre es bloße Kosmetik, lediglich einzelne täterbezogene Begriffe durch neue zu ersetzen, ohne die Gesamtkonzeption zu überdenken. Schließlich gibt es viel wichtigere Gründe, die nun für absehbare Zeit wohl letzte politische Chance einer Änderung des § 211 StGB zu nutzen.
So hat etwa Albin Eser, emeritierter Direktor des Max-Planck Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, schon vor mehr als 30 Jahren auf die Auslegungsprobleme der weitgefassten Mordmerkmale hingewiesen und eine Reform gefordert. Tatsächlich eröffnet ein Tatbestandsmerkmal wie "niedrige Beweggründe" erhebliche Interpretationsspielräume. Auch die "Heimtücke" geht strukturell zu weit, weil sie auch das körperlich unterlegene Opfer häuslicher Gewalt erfasst, das sich nicht anders zu wehren weiß, als den Haustyrannen im Schlaf zu ersticken.
"Das Problem selbst ist unlösbar"
Hier besteht nach herrschender Auffassung Verbesserungsbedarf. Doch werden sich keine Tatbestandsformulierungen finden lassen, die ohne Randunschärfen auskommen und die gleichzeitig sämtliche wesentlichen Fälle eines eindeutig erhöhten Unrechts erfassen. Daher kann die Reform des § 211 nur bezwecken, den Rand der Unschärfen zu verkleinern, ohne allzu große Lücken im Tatbestand zu hinterlassen. Ob dies möglich ist, wird umso stärker bezweifelt, je intensiver (wieder) um die richtige Fassung des § 211 StGB gerungen wird.
Als Franz von Liszt im Jahr 1905 seine "Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts" vorstellte, konstatierte er, dass Stooss mit seiner, den heutigen Mordtatbestand prägenden Konzeption gescheitert sei: "Das Problem, zu einer neuen Begriffsbestimmung des Mordes zu gelangen, hat er nicht gelöst. Das ist kein Vorwurf: denn das Problem selbst ist unlösbar." Anders gewendet: Liszt bezweifelte, dass es möglich sei, eine Liste klarer Kriterien zu finden, welche das schwerste Unrecht, die Tötung, gewissermaßen exzesshaft zu einem Mordunrecht übersteigert.
Wenn dies so ist, sollte man über die eingangs skizzierte Lösung nachdenken: Mord als Regeltatbestand, Totschlag als privilegierte Form des Tötungsunrechts. Denn hinsichtlich der wenigen Gründe, die eine Tötung ausnahmsweise weniger schwerwiegend erscheinen lassen, wird sich eher Einigkeit finden lassen als über Umstände, die das schwerste Unrecht – die Tötung eines anderen – noch weiter qualifizieren.
Lebenslange Freiheitsstrafe bleibt vorerst bestehen
Zu solchen privilegierenden Umständen gehören die relevante Mitverantwortung des Opfers, namentlich durch rechtswidriges Vorverhalten oder Selbstgefährdung, ferner der vorangegangene Vertrauensbruch in Garantieverhältnissen (z.B. Ehe und Familie) sowie das Handeln zum vermeintlich Besten des Opfers. Zusammengenommen wären diese Tatbestände nicht punitiver als die gegenwärtige Rechtslage, wohl aber systematisch und dogmatisch klarer. Rechtspolitisch hätte die hier skizzierte Lösung überdies den Charme, an der symbolisch wichtigen Unterscheidung von Mord und Totschlag festzuhalten und beiden Tatbeständen einen klar umrissenen Anwendungsbereich zuzuweisen. Vermieden würde dadurch eine für die Rechtsanwendung komplizierte und systematisch nicht überzeugende Mischlösung, etwa ein Nebeneinander von Mord mit eigenem Privilegierungstatbestand und Totschlag mit eigenem Milderungstatbestand.
Kein dogmatisches, sondern allein ein politisches Problem ist die lebenslange Freiheitsstrafe. Strafrechtstheoretisch wäre sie verzichtbar, wenn an ihre Stelle eine andere symbolische Höchststrafe träte: fünfundzwanzig oder dreißig Jahre Freiheitsstrafe etwa. Doch traut man sich an dieses politisch "heiße Eisen" in Berlin (noch) nicht heran. Man will offenbar den Erfolg einer gegenwärtig möglichen Reform der Tötungsdelikte nicht aufs Spiel setzen. Zumindest die Diskussion über den Strafrahmen wird also über das Jahr 2015 fortgesetzt werden.
Der Autor Professor Dr. Michael Kubiciel ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität zu Köln und Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafrechtstheorie und Strafrechtsvergleichung. Die vorstehenden Erwägungen eröffneten eine Diskussionsveranstaltung an der Universität zu Köln am 25. November 2014. Eine ausführlichere Fassung erscheint in der Reihe "Kölner Papiere zur Kriminalpolitik".
Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, Reform des Mordtatbestandes: . In: Legal Tribune Online, 27.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13943 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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