Gerichtsverfahren wegen schwerster Verbrechen sollen neu aufgerollt werden können, wenn neue Beweise auftauchen. Aber geht das ohne Grundgesetzänderung? Das BMJV hat der Mitwirkung an dem Vorhaben eine Absage erteilt.
Auf der Schlussgerade der Legislaturperiode nimmt sich die Große Koalition noch eine weitreichende Strafrechtsänderung vor. Wer wegen einer Straftat freigesprochen worden ist, gegen den soll das Verfahren wieder aufgenommen werden, wenn nachträglich neue Beweismittel bekannt werden. Das geht aus einem Gesetzentwurf der Fraktionen hervor, der LTO vorliegt.
Bislang ist die Wiederaufnahme zum Nachteil des Verurteilten in § 362 Strafprozessordnung (StPO) geregelt. In Härtefällen, wenn sich etwas herausstellt, dass eine zugunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde gefälscht war oder der Freigesprochene selbst später noch ein Geständnis über seine Tat ablegt, konnte dem Freigesprochenen doch noch eine Strafe drohen.
Die Gründe dafür sind aber eng gefasst, denn sie stehen in einem Spannungsverhältnis zu Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz und dem sogenannten Verbot der Doppelbestrafung: Wer bereits einmal freigesprochen worden ist, soll nicht noch einmal wegen der gleichen Tat bestraft werden können.
Nun soll noch ein weiterer Grund hinzukommen: Auch wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt, soll das Verfahren nochmal aufgenommen werden können. Beschränkt ist es laut Entwurf auf Fälle von Mord oder einem Tötungsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch, für das mit lebenslanger Freiheitsstrafe gedroht wird.
Ein Entwurf im verfassungsrechtlichen Alleingang
Pikanterweise ist der Entwurf nicht in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) entstanden – sondern im verfassungsrechtlichen Alleingang der Fraktionen von CDU/CSU und SPD. Also ohne - bzw. sogar gegen - das SPD-geführte BMJV.
Das BMJV hatte immer wieder auf "schwierige verfassungsrechtliche Fragen" verwiesen, eine Änderungen des Wiederaufnahmerechts zu Ungunsten des Angeklagten sei deshalb ohne eine Grundgesetzänderung nur in Randbereichen zulässig.
"Die Bundesregierung plant nicht, einen Vorschlag zur Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zu Ungunsten rechtskräftig freigesprochener Angeklagter vorzulegen", antwortete das BMJV auf eine kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion noch im Februar 2021. Deutlicher geht es kaum. Den verfassungsrechtlichen Segen aus dem BMJV hat der Entwurf damit nicht.
Vorsorglich wies das Ministerium noch darauf hin: "Zudem wäre eine rückwirkende Geltung für solche Strafverfahren, die bereits vor dem Inkrafttreten der Neuregelung rechtskräftig abgeschlossen waren, aufgrund des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots nicht möglich."
Auch der rechtspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Jan-Marco Luczak bestätigte gegenüber LTO Ende Januar, dass das BMJV eine entsprechende Änderung der StPO ablehne. Die Koalitionsfraktionen planten deshalb für sich eine eigene Initiative.
Bereits im Koalitionsvertrag hatte sich die Große Koalition auf eine Erweiterung von § 362 StPO verständigt. Dort heißt es: "Wir erweitern die Wiederaufnahmemöglichkeiten zu Ungunsten der oder des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten".
Neue Beweise durch DNA-Analyse?
Da Rechtssicherheit ein hohes Gut sei, wolle man die Reform auf solche unverjährbaren Taten beschränken, erklärte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner am Dienstag. "Es ist schreiendes Unrecht, wenn ein vormals freigesprochener Mörder nicht verurteilt werden kann, obwohl neue Beweise seine Tat belegen."
Luczak betonte: "Für die Angehörigen von Mordopfern ist es unerträglich, wenn freigesprochene Täter weiter frei herumlaufen können, auch wenn deren Täterschaft nachträglich aufgrund neuer Beweismittel mit hoher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könnte. Das widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zutiefst und ist auch rechtsstaatlich bedenklich."
Solche neuen Beweise könnten sich insbesondere aus neuen Untersuchungsmethoden ergeben, heißt es im Entwurf. Ein Beispiel sei die DNA-Analyse, die sich seit den späten 1980er Jahren entwickelt habe. Künftig könne auch die digitale Forensik solche neuen Belege ergeben, also die polizeiliche Auswertung digitaler Datenträger.
Sogar Wiederaufnahme rückwirkend?
Die Familie der 1981 in Niedersachsen vergewaltigten und ermordeten Frederike von Möhlmann kämpft seit Jahren um eine Neuregelung. Eine Petition bei Change.org haben bislang mehr als 180.000 Menschen unterschrieben. Ein Tatverdächtiger war 1982 zunächst verurteilt, später aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Zwar konnten Experten des Landeskriminalamtes 2012 mit neuen Methoden DNA-Spuren sichern, die den schon damals verdächtigen Mann schwer belasten. Der Anwalt der Familie, Wolfram Schädler, zeigte sich mit Blick auf die angestrebte Reform vorsichtig optimistisch: "Diese unendliche Geschichte nimmt offenbar ein gutes Ende", sagte er der Deutschen Presseagentur (dpa).
Ob die Neuregelung aber tatsächlich sogar rückwirkend gelten soll, darüber scheinen sich auch die Entwurfsverfasser noch nicht im Klaren. Erwähnt wird die Problematik in dem Entwurf mit keinem Wort.
Offen ist noch eine parallele zivilrechtliche Regelung, die festlegen soll, dass Ansprüche auf Schmerzensgeld in schweren Fällen nicht verjähren. Hierzu soll das Justizministerium einen Vorschlag machen, der kurzfristig vorgelegt werden soll, wie ein Sprecher der dpa bestätigte.
Anwaltverein: "Für 'Freispruch light' kein Raum"
Kritik an dem strafrechtlichen Vorhaben kommt auch vom Deutschen Anwaltsverein (DAV). "Das Grundgesetz hat sich im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit eindeutig für die Rechtskraft entschieden", sagte Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht des DAV am Dienstag. "Das Doppelbestrafungsverbot in Art. 103 Abs. 3 verbietet nach allgemeiner Auffassung auch die Doppelverfolgung nach einem Freispruch. Für einen 'Freispruch light' unter dem Vorbehalt späterer besserer Erkenntnis gibt es insofern keinen Raum – und dies schon gar nicht rückwirkend."
Die Koalitionsfraktionen haben sich für ihr Gesetzesprojekt einen sportlichen Zeitplan gegeben. Bereits in der kommenden Woche wollen sie den Entwurf in den Bundestag einbringen. Für den 21. Juni ist die Sachverständigenanhörung geplant, am 24. oder 25. Juni sollen dann die 2. und 3. Lesung im Plenum folgen.
Große Koalition will StPO-Änderung: . In: Legal Tribune Online, 01.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45101 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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