Viele Medien berichten, Scholz habe den Weiterbetrieb von drei AKWs "angeordnet". Doch wie weit reicht die Richtlinienkompetenz wirklich? Patrick Heinemann über einen Staatsrechtsklassiker und warum den Grünen die Machtwortinszenierung gut passt.
Der Bundeskanzler hat von seiner Richtlinienkompetenz nach § 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung (GO BReg) Gebrauch gemacht. In einem Schreiben an Habeck (Wirtschaft und Klimaschutz), Lemke (Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz) und Lindner (Finanzen) weist Olaf Scholz seine Kabinettskollegen an, die erforderlichen Gesetzesentwürfe zu erarbeiten, damit die Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland über den 31. Dezember hinaus bis längstens zum 15. April 2023 betrieben werden können. Ob das politisch wirklich brisant ist, werden die nächsten Wochen zeigen. Das Machtwort erstreckt sich nur auf den Kreis der Bundesregierung.
Ob sich im Bundestag genügend Stimmen insbesondere der Grünen finden werden, um die erforderlichen Gesetzesänderungen mit einer Regierungsmehrheit zu beschließen, ist eine ganz andere Frage. Die Abgeordneten sind in ihrem Mandat frei, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Sie unterliegen allenfalls einer faktischen Koalitionsdisziplin, die in den nächsten Wochen besonders betont werden dürfte. Denn mit der Richtlinienentscheidung ist zwar formal geklärt, was die Haltung der Bundesregierung insgesamt in einer wichtigen politischen Frage ist. Findet die Regierung hierfür im Parlament keine Mehrheit, kommt das allerdings einem Misstrauensvotum gleich. Unabhängig davon landet mit dem Gebrauch der Richtlinienkompetenz jedenfalls ein staatsorganisationsrechtlicher Klassiker auf der Nachrichtenagenda, mit dem Jura-Profs seit Generationen junge Studierende in den ersten Semestern quälen. Was hat es damit auf sich?
Richtlinienkompetenz vs. Ressortprinzip
Nach Art. 65 Satz 1 GG bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. In § 1 Abs. 1 Satz 1 GO BReg heißt es weitgehend übereinstimmend, der Bundeskanzler bestimme "die Richtlinien der inneren und äußeren Politik". Diese Richtlinienkompetenz markiert verfassungsrechtlich die eigentliche Sonderstellung des Bundeskanzlers im Verhältnis zu den Ministern: Er (oder sie) ist Regierungschef. Deshalb beinhaltet sie unumstritten das Recht des Bundeskanzlers, in politischen Grundsatzfragen Führungsentscheidungen zu treffen, bei denen sich das Kabinett als Ganzes nicht einig wird. Denn bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesministern soll vorrangig die Bundesregierung als Kollegium entscheiden (Art. 65 Satz 3 GG).
Doch diese Richtlinienkompetenz steht in einem latenten Spannungsverhältnis zu einem anderen Staatsorganisationsprinzip des Grundgesetzes: Nach dem Ressortprinzip, das unmittelbar zusammenhängend in Art. 65 Satz 2 GG verankert ist, leiten die Bundesminister innerhalb der vom Kanzler gesetzten Richtlinien ihre Geschäftsbereiche selbständig und unter eigener Verantwortung. Der Bundeskanzler und seine Ministerinnen und Minister bilden gemeinsam das Kollegialorgan der Bundesregierung (Kollegialitätsprinzip). In gewisser Hinsicht ist der Kanzler damit ein "Prime Minister", also der Erste unter Gleichen. Das war nicht immer so:
Nach der Reichsverfassung von 1871 etwa war der Reichskanzler der einzige verantwortliche Minister. Im Verhältnis zu den Staatssekretären, die die verschiedenen Ämter – nicht Ministerien – wie etwa das aus Traditionsgründen bis heute so genannte Auswärtige Amt leiteten, waren Bismarck und seine Nachfolger also nicht bloß primus inter pares, sondern weisungsbefugt. Das änderte sich erst mit der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919, nachdem die verspäteten Oktoberreformen von 1918 bereits eine teilweise Kollegialisierung der Reichsleitung verfolgt hatten. So hat Art. 65 GG sein unmittelbares historisches Vorbild in dem geradezu wortgleichen Art. 56 WRV. Auch im internationalen Vergleich mit anderen westlichen Demokratien ist die Organisation der Regierung als Kollegialorgan keineswegs selbstverständlich. Insbesondere Präsidialdemokratien wie die USA räumen dem Regierungschef eine starke Stellung ein. So sind die verschiedenen "Secretaries" eigentlich eben nicht Minister, auch wenn das aus Gründen der Vereinfachung gerne so dargestellt wird. Sie stehen ihrem jeweiligen Ressort vielmehr als Staatssekretär vor und müssen sich gegenüber dem Präsidenten verantworten.
Schon Adenauer wusste: "Es steht doch im Grundgesetz"
Wo aber sind nach dem deutschen Staatsorganisationsrecht die Grenzen der Richtlinien zu ziehen, innerhalb derer die Bundesminister selbständig und eigenverantwortlich ihre Ressorts leiten sollen? Konrad Adenauer, der mit der Richtlinienkompetenz unter anderem im Jahr 1956 seine Rentenreformvorstellungen gegenüber seinem Parteikollegen und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard durchsetzte, hatte hierauf eine ziemlich einfache Antwort: "Es steht doch im Grundgesetz: Die Richtlinien der Politik bestimme ich. Und auch, was Richtlinien der Politik sind, bestimme ich." Das klingt zwar flapsig, entspricht aber im Kern der herrschenden Staatsrechtslehre, wonach dem Bundeskanzler hier in der Tat eine Definitionshoheit zukommt. Dem ersten Kanzler der Bundesrepublik wurde oft nachgesagt, er habe einen patriarchalen Stil gepflegt und von seinen Befugnissen nach Art. 65 Satz 1 GG wie niemand anderes nach ihm Gebrauch gemacht. Das mag zwar formal zutreffen.
Allerdings haben etliche politische Beobachter gerade in den Merkel-Jahren eine Konzentrierung der Macht von den Ressorts weg hin zur Regierungszentrale beobachtet – ein Trend, der sich nun auch städtebaulich an der geplanten Vergrößerung des Kanzleramts ablesen lässt. Gleichwohl konnte die erste deutsche Kanzlerin stolze 16 Jahre weitgehend ohne Berufung auf ihre Richtlinienkompetenz regieren. Einzig bei der Strafverfolgungsermächtigung gegen den Satiriker Jan Böhmermann wegen dessen Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Erdogan setzte sie sich hiermit gegen ihren sozialdemokratischen Koalitionspartner durch.* Selbst bei ihrer so ziemlich einzigen echten Regierungskrise, dem Asylstreit mit CSU-Innenminister Seehofer im Sommer 2018, genügte es Merkel, mit Art. 65 Satz 1 GG zu drohen.
Richtlinienkompetenz als Zeichen der Schwäche?
Das alles zeigt, dass die Richtlinienkompetenz zwar wichtig ist, aber gleichwohl nicht so formal gehandhabt werden muss, wie es Olaf Scholz jetzt getan hat. Die Autorität, die sie verfassungsrechtlich sichern soll, kann je nach Typ des Regierungschefs auch anders vermittelt werden. Ohnehin kann ein Bundeskanzler seine Richtlinien der Politik nicht zwangsweise gegenüber den Kabinettsmitgliedern durchsetzen. Schert ein Minister gleichwohl aus, bleibt dem Kanzler nichts anderes übrig, als im Schloss Bellevue um dessen Entlassung zu bitten (Art. 64 Abs. 1 Alt. 2 GG). Viel spricht deshalb dafür, dass die Abgrenzung von Richtlinienkompetenz und Ressortprinzip weniger ein praktisches Verfassungsrechtsproblem als eine Frage des politischen Stils ist.
Eine Regierung, die sich hierüber vor dem Bundesverfassungsgericht streiten wollte, wäre ohnehin am Ende. Entsprechend dünn ist die Karlsruher Rechtsprechung: Jedenfalls die Außenpolitik soll zu den Richtlinien der Politik gehören, liest man nun in der Entscheidung vom 15. Juni dieses Jahres zu Äußerungsbefugnissen von Regierungsmitgliedern unter Verweis auf § 1 Abs. 1 Satz 1 GO BReg, ohne dass allerdings dieser Schluss nach dem Wortlaut von Art. 65 Satz 1 GG zwingend ist. Weitergehende inhaltliche Aussagen ließen sich den roten Roben bislang nicht entlocken.
Richtigerweise können unter die Richtlinienkompetenz auch Einzelfallentscheidungen wie der Weiterbetrieb dreier Kernkraftwerke in einer sicherheits- und energiepolitischen Krise fallen, wie Staatsrechtslehrer Alexander Thiele in einem Beitrag im Verfassungsblog erläutert. Diese Frage ist, worauf Thiele ebenfalls hinweist, jedenfalls so bedeutend und zwischen den Koalitionären auch so umstritten, dass über die Meinungsverschiedenheit auch nicht mehr das Kabinett nach Art. 65 Satz 3 GG entscheiden kann.
Machtwort von Scholz kommt Grünen-Spitze gut gelegen
Im Ergebnis dürfte das Problem der Reichweite der Richtlinienkompetenz aber von so praktischer Relevanz sein wie die alte scholastisch-theologische Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben. So sehr einige Journalisten das Ende der Regierungskoalition nun geradezu herbeischreiben wollen, so wenig dürfte es sich lohnen, der Frage nach der Abgrenzung zum Ressortprinzip weiter nachzugehen.
Denn vieles spricht dafür, dass es sich bei der nun kommunizierten Richtlinienentscheidung ohnehin nur um eine politische Finte der Ampel handelt: Der Kanzler darf mal auf den Tisch hauen und die oft bestellte Führung servieren, die FDP kriegt ihre Laufzeitverlängerung und Robert Habeck kann vor der grünen Basis sein Gesicht wahren, indem er sich hinter der Richtlinienkompetenz des Kanzlers versteckt. Das sieht eher wie die Lösung als der Anfang einer Regierungskrise aus.
Dr. Patrick Heinemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner bei Bender Harrer Krevet, Freiburg.
* Zunächst hieß es hier, Merkel habe sich 16 Jahre lang nicht auf die Richtlinienkompetenz berufen müssen. Wir haben die Ausnahme ergänzt und den Text korrigiert.
Zur Richtlinienkompetenz von Olaf Scholz im Atomstreit: . In: Legal Tribune Online, 18.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49913 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag