Das LG Erfurt verurteilt den Weimarer Familienrichter zu zwei Jahren Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung. Zu dem Fall, den Hintergründen und der Urteilsbegründung weiß Tanja Podolski mehr.
"Freiheit, Freiheit!", skandieren die Demonstrant:innen vor dem Landgericht (LG) Erfurt, als Richter Christian D. nach der Urteilsverkündung an diesem Mittwoch das Gebäude verlässt. Er ist in Begleitung seiner Strafverteidiger Dr. h.c. Gerhard Strate und Peter Tuppat. Die Männer gehen an den Demonstrant:innen vorbei, D. hält den Kopf gesenkt, der eher unscheinbare Mann wirkt schon den ganzen Morgen so, als könne er nicht begreifen, was mit ihm geschieht.
Das wollen auch die Demonstrant:innen nicht verstehen. Es sei ein "politisch motivierter Prozess" gewesen, eine "Farce", ein "Skandal-Urteil". Soeben hatte die zweite Strafkammer den 60-Jährigen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen Rechtsbeugung gem. § 339 Strafgesetzbuch (StGB) in zwei tateinheitlichen Fällen verurteilt (Urt. v. 23.08.2023, Az. 2 KLs 542 Js 11498/21), ausgesetzt zur Bewährung. Die Richter:innen sahen es als erwiesen an, dass D. vor rund zweieinhalb Jahren eine Entscheidung willkürlich getroffen und sich bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt hat – das sind die Tatbestandsmerkmale der Rechtsbeugung.
Eine gute Stunde lang erklärte der Vorsitzende Richter am LG Erfurt, Detlef Hampel, wie die Kammer zu dieser Entscheidung gekommen ist.
Ein Familienrichter erklärt Corona-Maßnahmen für nichtig
Die Tathandlung liegt einige Zeit zurück. Es war im April 2021, in der Hochzeit der Pandemie und der Schutzmaßnahmen gegen die Übertragung des Coronavirus. D. erließ einen Beschluss, mit dem er für alle Kinder an zwei Schulen fast alle Schutzmaßnahmen gegen die Übertragung des Virus für beendet erklärte (Beschl. v. 08.04.2021, Az. 9 F 148/21). Alle Kinder sollten keine Masken mehr tragen, keine Schnelltests mehr durchführen, keine Abstände einhalten. Nur das Lüften der Klassenzimmer blieb erlaubt. Diese Entscheidung adressierte er an alle Schüler:innen, an die Lehrer:innen, die Schulleitungen sowie deren Vorgesetzte. Auf landesrechtliche Vorschriften in den Corona-Verordnungen könnten sich die Schulen nicht berufen, die erklärte D. für verfassungswidrig und damit nichtig.
Gegner:innen der Corona-Maßnahmen feierten den Richter für seine Entscheidung. Endlich einer, der die “Corona-Diktatur” zumindest für die Schüler:innen beendete. Dann der Schock, die Empörung, bei einigen Verzweiflung, bei anderen Wut, als dieser in ihren Augen mutige Richter nun selbst Adressat von staatlichen Sanktionen werden sollte.
Denn nicht nur legte das Thüringer Bildungsministerium Beschwerde gegen die Entscheidung ein – worauf das Oberlandesgericht Jena dann auch kurz darauf den Beschluss aufhob –, auch die Staatsanwaltschaft Erfurt nahm Ermittlungen gegen den Richter auf, eben wegen des Verdachts der Rechtsbeugung, und durchsuchte die Privat- und Diensträume sowie das Auto des Richters.
Proteste und weiße Rosen vor dem AG Weimar
Die Anhänger:innen des Richters zeigten ihre Solidarität mit Christian D., legten in Anlehnung an die Widerstandsorganisation der Geschwister Scholl, die in der NS-Zeit von den Nazis verfolgt worden waren, auf den Stufen des Amtsgerichts in Weimar weiße Rosen nieder, stellten Grabkerzen auf, äußerten, "das Regime müsse gestürzt werden" und dass man sich um den Rechtsstaat sorge, wenn ein Richter keine unabhängigen Entscheidungen mehr treffen dürfe.
Den Höhepunkt erreichte der Protest am 1. Mai 2021, als Anhänger:innen von D. und Gegner:innen der Corona-Schutzmaßnahmen vor dem Gericht demonstrierten: Die Polizei riegelte das AG schließlich weiträumig ab, Rosen und Kerzen und massenhaft Briefe an den Richter landeten in großen Müllsäcken.
Zum Prozessauftakt waren seine Unterstützer wieder sichtbar: Sie wechselten sich im Gerichtssaal ab und informierten bei einer Kundgebung vor dem Bahnhof in Erfurt über die Ereignisse in der Verhandlung – aus ihrer Wahrnehmung. "Ein aufrichtiger Mensch", "mutiger Friedensrichter" – hieß es auf Plakaten. Auch bei der Urteilsverkündung am Mittwoch waren gut 50 Personen erschienen, nicht alle konnten in den Saal mit 32 Plätzen – der größte, den das LG Erfurt hat. Einige wollten ohnehin draußen die Plakate bewachen.
Erheblich mehr als eine Frage der Zuständigkeit
Die Kammer des LG Erfurt, bei der auch Schöffen an der Rechtsfindung mitwirken, bewertete das Verhalten von D. nun anders als dessen Anhänger:innen.
Entscheidend für die Verurteilung war nicht – und das hob der Vorsitzende Hampel noch einmal deutlich hervor -, dass Familiengerichte für die Entscheidung über Corona-Maßnahmen an Schulen nicht zuständig sind. Denn darüber lässt sich juristisch zumindest diskutieren und in dieser Frage hatten schließlich sogar zwei Bundesgerichte entscheiden müssen. "Auch unvertretbare Meinungen sind der Juristerei immanent und führen häufig zu neuen Gedanken", sagte Hampel bei der Urteilsbegründung.
Hier aber habe der Fall anders gelegen. "Der Vorwurf fußt darauf, dass Sie voreingenommen waren, Sie waren parteiisch", so Hampel zu D. Dabei sei die Unvoreingenommenheit gerade das, was jeder mit dem Richteramt verbinde. Sie sei untrennbar mit der richterlichen Unabhängigkeit verbunden und essenzielle Voraussetzung des Verfahrens. "Auch an einem Amtsgericht darf ein Richter die gebotene Neutralität nicht fallen lassen", so Hampel. "Keiner will vor einem Richter stehen, der befangen ist". Es sei "in der Praxis kaum vorstellbar, sich einen schwerwiegenderen Verstoß gegen die Unvoreingenommenheit vorzustellen".
Mit Emails um Verfahren geworben
Zu diesen Ausführungen kommt Hampel, nachdem er detailliert die Tatschen dargelegt hat, die sich aus der neuntägigen Beweisaufnahme ergeben hatten. D. hatte demnach selbst an Spaziergängen gegen die Corona-Maßnahmen teilgenommen. Seine Teilnahme stellte er ein, als er auf die Idee gekommen war, dass man Kindeswohlverfahren entsprechend gezielt führen könnte. Er selbst schrieb nach Erkenntnissen des LG in einer Email, dass er besser nicht mehr an den Spaziergängen teilnehme, um nicht in den Verdacht der Befangenheit zu geraten, es hätten ohnehin schon viele mitbekommen.
Laut der Beweisaufnahme hat D. über Kontakte in die Gruppe der Coronamaßnahmen-Gegner:innen bewusst nach Eltern gesucht, die ein solches Verfahren anstrengen könnten, seine Zuständigkeit als Familienrichter für die entsprechenden Nachnamen gab er an. Das von D. vorgefertigte Schreiben, das letztlich zu den nun verurteilten Taten führte, hatte D. selbst überarbeitet, bevor die Mutter der Kinder es dem Gericht übergab. Damit hatte D. seinen Fall bekommen, der zu dem Beschluss aus April 2021 führte.
D. informierte sich nach Überzeugung des Gerichts zudem vorab über mögliche Gutachter:innen, die zu dem von ihm gewünschten Ergebnis kommen würden, dass die Maßnahmen die Kinder schädigten – und beauftragte diese, sogar noch bevor der entsprechende Antrag bei Gericht einging. Der Beweisaufnahme zufolge hat er sogar mehrfach kommuniziert, dass es ihm darum gehe, öffentlichkeitswirksam einen Beschluss zu erlassen, den er in eine Online-Datenbank einfügen wolle, um Druck auf andere Gerichtsentscheidungen auszuüben.
Auch auf den Einwand des Familienrichters, er habe das Verfahren ja auch von Amts wegen einleiten können, ging Richter Hampel bei der Urteilsbegründung ein: "Sie haben das Verfahren nicht von Amts wegen eingeleitet. Sie haben darauf gesetzt, Ihre Befangenheit zu verschleiern." Und weiter: "Wenn sie den mutigen Weg gegangen wären, quasi mit offenem Visier – ich weiß nicht, ob man dann zur Annahme einer Rechtsbeugung gekommen wäre. Aber den Weg sind Sie nicht gegangen."
"Ist mir Wurscht": Weitere Eltern an entsprechenden Anträgen interessiert
Welchen Eindruck so ein Verhalten bei der Bevölkerung haben könne, hat sich nach Auffassung des LG in der Folge schnell gezeigt. Nachdem der entscheidende Beschluss vom April 2021 in der Welt war, gab es eine Anfrage einer weiteren Mutter bei einem Kontakt von D., ob ein weiteres solches Verfahren möglich sei. Auf die Frage, mit welchem Buchstaben der Nachname beginne - denn der ist für die Zuständigkeit von Richter:innen in solchen Fällen ausschlaggebend -, hieß es in der Kommunikation zwischen dem Kontakt und der an einem weiteren Verfahren interessierten Mutter: Das klinge schon nach richterlicher Voreingenommenheit, "aber ist mir ja Wurscht".
"Es ist ein Verbrechen", sagte Richter Hampel zusammenfassend. Zugunsten von D. wertete die Kammer, dass er die Entscheidung "im Kontext eines massiven Konflikts" getroffen habe, "den wir auch im Verfahren gesehen haben". Die von D. angeforderten Gutachten mit dem von ihm gewünschten Ergebnis seien außerdem von Personen mit medizinischer Expertise abgelegt worden, zudem sei er nicht vorbestraft und das Verfahren dauere schon mehr als zwei Jahre.
Aber, so adressierte es Hampel an den Richterkollegen D.: "Der gute Zweck, den Sie vielleicht im Hinterkopf hatten, rechtfertigt nicht die Art und Weise." Zu Lasten des Angeklagten führe daher der "sehr erhebliche" Verfahrensverstoß, "nach unseren Recherchen gibt es in der Rechtsprechung bisher keinen vergleichbaren Fall".
Eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, schien der Kammer wegen des Konflikts, in dem sich D. befunden habe, und dem zeitlichen Abstand zur Tat dennoch nicht angemessen. Mangels Widerholungsgefahr könne die Freiheitsstrafe ohne Auflage zur Bewährung ausgesetzt werden.
Mit Rechtskraft kommt das Ende des Richterverhältnisses
D. steht nun die Revision zum Bundesgerichtshof zu. Strafverteidiger Strate wird diese einlegen, sagte dieser unmittelbar nach Schluss der Verkündung. Erst wenn diese zurückgewiesen wird, werde das Urteil gegen den Richter rechtskräftig.
Das hätte über die strafrechtliche Verurteilung hinaus erhebliche Bedeutung für D. Denn nach dem einschlägigen § 24 Nr. 1 Deutsches Richtergesetz (DRiG) endet mit der Rechtskraft des Urteils wegen einer Tat mit einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr auch sein Richterverhältnis. Bisher war D. seit Januar 2023 lediglich vorläufig suspendiert.
Mit der Beendigung des Richterverhältnisses verlöre er dann auch seine Pensionsansprüche. "Es gibt dann zwar die sogenannte Nachversicherung", erklärte ein Staatsanwalt auf LTO-Anfrage, der anonym bleiben möchte. Das bedeute, das Land als Dienstherr zahle nachträglich in die Rentenversicherung, so dass der dann ehemalige Richter immerhin über eine gesetzliche Rentenversicherung verfügte. Die fiele aber geringer aus als eine reguläre Richterpension. Über die Beendigung müsste nicht einmal mehr das Richterdienstgericht entschieden, diese Folge kommt kraft Gesetzes.
Hätte D. das ahnen müssen? Vielleicht. Denn schon bei der Gründung des Vereins “Kritische Richter und Staatsanwälte” (KRiStA), dem D. angehört, hat ein Mitglied dort geschrieben: "Zum dienstrechtlichen Schutz soll ein Verein KriStA gegründet werden. Auf diese Weise sind Meinungen und Standpunkte auch durch Art. 9 GG geschützt. Auch muss sich der Einzelne dann nicht zu sehr exponieren. Nicht mehr der Einzelne tritt mehr nach außen auf, sondern der Verein als Ganzes. Bisher besteht für jeden Einzelnen die konkrete Gefahr dienstrechtlicher Repressalien und Maßnahmen, insbesondere in Hinblick auf das zu beachtende Mäßigungsgebot."
Der Fall des Weimarer Familienrichters: . In: Legal Tribune Online, 23.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52546 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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